Leitton. Ein Ton, der, wenn er unter gewissen Verhältnissen zur Tonart in der Melodie oder Harmonie auftritt, eine bestimmte Fortschreitung, je nach seiner Natur und Beschaffenheit, in die nächsthöhere oder nächsttiefere Stufe fordert. Leitton wird er genannt, weil er den Tongang in einen bestimmten Ton, dessen Gefühl er in unserem Ohre im Voraus erweckt, hineinleitet.
Es gibt verschiedene Arten von Leittönen, nämlich
1) solche, die in der Tonart leitereigen und stets melodische Haupttöne (im Anschlag der Akkorde stehende Töne) sind.
a) Das Semitonium (Subsemitontum) modi, die im engeren Sinn Leitton der Tonart genannte große Septime der Tonart, wenn sie harmonischer Bestandteil des in den tonischen Dreiklang sich auflösenden Dominant- oder Dominantseptimen-Akkordes sowie auch des verminderten Dreiklanges der siebenten Stufe und deren Umkehrungen ist. In diesem Fall fordert die große Septime die Oktave zur Auflösung, indem sie die melodische Bewegung der Tonart durch Hineinleiten in die Oktave zum Abschluss bringt, wovon unser Tongefühl uns leicht überzeugt, wenn wir die Skala aufwärts bis zur großen Septime durchlaufen, worauf alsdann das Gehör die Oktave als natürlichen Abschluss erwartet. In welcher Stimme der Akkordfolge die große Septime auftritt, bleibt sich gleich, denn sie macht ihre Hinneigung zur Oktav überall geltend, Beispiel 1a. Doch weicht sie in den Mittelstimmen, wo sie weniger deutlich gehört wird, unter Umständen eher von ihrem regulären Gange ab, wie unter 1b der Vollständigkeit des Schlussakkordes zu Liebe. Das Ohr übernimmt in solchen Fällen die reguläre Auflösung selbst. In der Oberstimme hingegen macht sich ebendieselbe Fortschreitung als steif und unnatürlich fühlbar, 1c. Hingegen ist das Aufwärtsspringen des Leittones in die große oder kleine Terz des tonischen Dreiklanges auch in der Oberstimme (1d) keineswegs selten und durchaus wohlklingend. Unter Beispiel 1e ist der Leitton vom Akkordanschlag durch eine Wechselnote verdrängt, wodurch an seiner Wirkung aber nichts geändert wird.
Leitton, Notenbeispiele 1a-1e
Diesen Charakter als Leitton hat die große Septime aber nur, wenn sie Bestandteil der Akkorde V oder V7 und VII- ist; denn sie kann auch in anderen Akkorden derselben Tonart vorkommen, doch ohne in diesen Fällen Leitton, folglich auch ohne an die Auflösung um einen großen halben Ton aufwärts gebunden zu sein. In Beispiel 2a gehört sie dem tonischen Dreiklang als Septime, in 2b dem Akkord der 3. Stufe als Quint an, hat in beiden Fällen andere harmonische Bedeutung, wodurch denn auch ihre melodische Beziehung zur Oktave aufgehoben ist. Und ebendasselbe kann auch stattfinden, wenn sie allerdings Terz des Dominantakkordes ist, dieser jedoch nicht in den tonischen Dreiklang, sondern in einen anderen derselben Tonart leitereigenen Akkord fortschreitet (2c); desgleichen bei der Trugfortschreitung 2d. Folgt auf den Dominantakkord ein leiterfremder, ausweichender Akkord, so wird die Leittonbedeutung der großen Septime selbstverständlich aufgehoben, z. B. 2e.
Leitton, Notenbeispiele 2a-2e
b) Die Quarta toni, vierte Stufe der Tonart, wenn sie als Bestandteil des Dominantseptimenakkordes und des verminderten Dreiklanges der 7. Stufe, nämlich in jenem als kleine Septime, in diesem als verminderte Quint, oder als Umkehrung dieser Intervalle erscheint. Als solche ist sie an Auflösung um eine halbe oder ganze Stufe abwärts gebunden und insofern ebenfalls als ein Leitton in weiterem Sinne anzusehen, Beispiel 3.
Leitton, Notenbeispiel 3
Des sehr häufigen Aufwärtsschreitens der Septime und verminderten Quinte ist unter Septime, Septimenakkord, Quinte und Sextakkord gedacht.
2) Leittöne, die in der Tonart leiterfremd sind und entweder als melodische Haupttöne auch harmonische Bedeutung haben oder nur Nebentöne sind.
a) Sind sie melodische Haupttöne, so erscheinen sie als Leittöne anderer Tonarten und vollziehen eine Ausweichung, wie die Töne fis und gis in Beispiel 4 kurze Ausweichungen nach G-Dur und A-Moll vollziehen. Das Nähere unter Ausweichung.
Leitton, Notenbeispiel 4
b) Sind sie nur melodische Nebentöne, so haben sie keine harmonische Bedeutung, sondern nur die Geltung alterierter, in melodischem Interesse chromatisch veränderter Töne, vollziehen daher keine Ausweichung. Leittöne sind sie zu nennen, insofern sie ebenfalls ihre bestimmte Fortschreitung fordern. Sie resolvieren um einen halben Ton aufwärts, wenn sie chromatische Erhöhungen, um ebenso viel abwärts, wenn sie chromatische Erniedrigungen diatonischer Töne sind. Es gehören dazu
– die Quint des III+ in Moll, wenn die Erhöhung der kleinen Septime zur großen auch auf sie angewendet wird, sie demnach zur Terz der Tonart als übermäßige Quinte erscheint, in welchem Falle sie ihren bestimmten Fortschritt um einen halben Ton aufwärts nimmt, Beispiel 5a. Auch die verminderte Quint kann als ein solches bloß alteriertes Durchgangsintervall auftreten, 5b.
– Ferner alle übrigen aus melodischen Absichten erhöhten oder erniedrigten Töne, die den auf sie folgenden diatonischen Stufen als große halbe Töne vorangehen, ohne weiteren Einfluss auf eine Änderung der Tonart zu üben, 5c.
Leitton, Notenbeispiele 5a-5c
Wenngleich diese chromatisch veränderten Töne das Wesen von Leittönen haben, so pflegt man doch, wenn man vom Leittone spricht, insbesondere die große Septime der Tonart darunter zu verstehen. Hinsichtlich ihrer Verwendung im mehrstimmigen Satz aber sind alle diese Intervalle derselben Regel, dass sie nicht verdoppelt werden dürfen, unterworfen. Denn da sie alle bestimmte Fortschreitung haben, müssen aus der Verdoppelung notwendigerweise fehlerhafte Oktavparallelen entstehen. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 508ff]