Musiklexikon: Was bedeutet Chromatisch?

Chromatisch (1882)

Chromatisch (italienisch: cromatico, französisch: chromatique), d. h. gefärbt, farbig, hieß in der Musik der alten Griechen das Klanggeschlecht, bei welchem die zwei ersten Intervalle eines Tetrachords Halbstufen sind und das dritte den Umfang einer übermäßigen Sekunde hat.

In der modernen Musik heißt die Fortschreitung in Halbstufen chromatisch: c-cis-d-dis usw. [Reissmann Handlexikon 1882, 81]

Chromatisch (1865)

Chromatisch (gefärbt, von chroma: Farbe), hieß bei den Griechen dasjenige Klanggeschlecht, dessen Tetrachorde aus einer Folge von zwei halben Tönen und einer kleinen Terz bestanden; also z. B. a-b-h-d (siehe Tetrachord). Dieses Geschlecht konnte, eben wie das diatonische und enharmonische, allein oder mit einem der beiden anderen Geschlechter oder mit beiden zugleich vermischt gebraucht werden. Doch vermögen wir uns von der unvermischten Anwendung des chromatischen sowohl als enharmonischen Geschlechtes keine deutliche Vorstellung zu machen, indem wir uns keine in unserem Sinne auch nur einigermaßen erträgliche Melodie zu denken im Stande sind, die in beständigen Fortschreitungen von zwei halben Tönen und einer kleinen Terz oder von zwei Vierteltönen und einer großen Terz sich bewegen soll.

Was die Griechen veranlasst hat, dem in Rede stehenden Klanggeschlechte die Bezeichnung eines gefärbten beizulegen, scheint nicht ausgemacht zu sein. Einige, und besonders Rousseau, glauben, man hätte die Tonzeichen für dieses Geschlecht mit anders gefärbter Tinte geschrieben als die Tonzeichen für die anderen beiden Geschlechter. Dies wäre aber kein Grund, es gefärbt zu nennen, sofern die Tonzeichen für die anderen beiden doch nicht farblos waren. Weit näher liegt die Annahme, es habe seine Benennung, als ein durch seine besondere künstliche [künstlerisch] Fortschreitung eigentümlich gefärbtes Klanggeschlecht, zum Unterschiede von dem nur durch natürliche ganze und halbe Töne sich fortbewegenden alten diatonischen Klanggeschlechte erhalten. Allerdings ist das enharmonische Geschlecht noch stärker gefärbt, doch ist es auch noch neuer als das chromatische, außerdem als wirkliches Klanggeschlecht, selbst in Vermischung mit den übrigen Klanggeschlechtern, wohl nie weiter in Betracht gekommen, als in den Rechnungen der Kanoniker. In der praktischen Musik wird man es stets als das was es ist, als eine schlechte Gesangmanier, Durchheulen von einem Tone zum andern, angesehen haben.

In der modernen Musik [um 1865] gibt es kein besonderes chromatisches Klanggeschlecht im Sinne der Griechen. Solche Tonfolgen, die wir chromatisch nennen, gründen sich auf eine aus diatonischen und chromatischen Fortschreitungen zusammengeschobene Leiter, von deren Entstehung und Anwendung man einiges im Artikel Klanggeschlecht findet.

Unter a) chromatischen Melodien verstehen wir also solche, denen eine aus diatonischen und chromatischen Fortschreitungen bestehende Skala zu Grunde liegt oder in denen viele Halbtonerhöhungen oder Erniedrigungen diatonischer Stufen vorkommen.
Ferner nennen wir b) eine Harmoniefolge chromatisch, wenn sie viel und anhaltend durch Halbtonerhöhungen und -erniedrigungen fortschreitet,
und in eben dem Sinne wird der Ausdruck c) auch auf ganze Tonstücke angewendet, wenn in ihren Themen und sonst wesentlichen Teilen die chromatischen Tonfortschreitungen vorherrschen (zum Beispiel S. Bachs Chromatische Phantasie).

Hin und wieder findet man den Ausdruck, ein Tonstück sei chromatisch gesetzt, auch in der Bedeutung gebraucht, dass in diesem Tonstücke viele Dissonanzen, ungewöhnliche Auflösungen derselben, scharfe und herbe Übergänge, fremdartige Fortschreitungen u. dergl. enthalten seien. Wenn ein solches Tonstück allerdings auch sehr stark gefärbt sein wird, so braucht es darum doch noch kein chromatisches in der diesem Worte von der Theorie ein für allemal beigelegten Geltung zu sein. Deshalb bedient man sich dieses Ausdruckes besser nur da, wo er eigentlich hingehört, indem sonst leicht Begriffsverwirrung entstehen kann. Näheres über den Gebrauch chromatischer Tonfortschreitungen siehe Klanggeschlecht. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 164]

Chromatisch (1807)

Chromatisch. Die Griechen waren gewohnt, den Umfang ihrer Töne nicht allein zu solchen Tetrachorden zu verbinden, die aus der Folge eines großen halben Tones und zweier ganzen Töne bestanden (siehe Tetrachord) und aus deren Zusammenkettung diejenige Tonreihe zum Vorschein kam, die man das diatonische Klanggeschlecht oder die diatonische Tonleiter nennt; sondern sie verbanden die Töne auch zu solchen Tetrachorden, die aus der Folge zweier halben Töne und einer kleinen Terz (z. B. aus der Tonfolge e f fis a) bestanden, und nannten die vollständige Tonreihe, die aus diesen Tetrachorden hervorging, das chromatische oder farbige Klanggeschlecht.*

Auch in der modernen Musik hat man die Folge der halben Töne zu einem besonderen Klanggeschlechte oder zu einer besonderen Tonleiter geordnet, die man ebenfalls wegen der in dieser Tonleiter enthaltenen Folge kleiner halber Töne [z. B. c-cis, e-eis, fes-f] chromatisch nennt. Diese Tonleiter entsteht in der modernen Musik, wenn man diejenigen Modifikationen der Töne, welche die Versetzung der harten [Dur-] oder weichen [Moll-]Tonart auf die übrigen Töne der Tonleiter notwendig macht, mit der Reihe der ursprünglichen Töne verbindet. Weil bei einem Teil dieser Versetzungen der Tonart verschiedene Töne um einen kleinen halben Ton erniedrigt werden müssen, so haben wir eigentlich zwei verschiedene Gattungen dieser chromatischen Tonreihe, nämlich

  1. diejenige, die aus der Erhöhung der Töne zum Vorscheine kommt, als c cis d dis e f fis g gis a ais h; und
  2. diejenige, die sich aus der Erniedrigung der Töne entwickelt, als c des d es e f ges g as a b h.

In diesen beiden Tonreihen sind jedoch nur diejenigen Fortschritte chromatisch, die nur einen kleinen halben Ton ausmachen, wie z. B. c-cis, des-d usw. Die übrigen hingegen, welch einen großen halben Ton bilden, wie z. b. cis-d oder c-des usw., gehören zu dem diatonischen Klanggeschlechte. Daher nennt man eine solche Tonleiter mit Recht eine diatonisch-chromatische Tonleiter.

* Von dem griechischen Worte chroma, die Farbe. Einige, und besonders Rousseau, glauben, dass dieses Klanggeschlecht deswegen den Beinamen des farbigen erhalten habe, weil man gewohnt gewesen sei, die chromatischen Fortschritte mit einer anderen Farbe oder Tinte zu bezeichnen als die diatonischen.

[Koch Handwörterbuch Musik 1807, 81]