Musiklexikon: Was bedeutet Wechselnote?

Die Wechselnote in der Musik, ausführlich erläutert mit zahlreichen Noten- und Klangbeispielen von Musikgelehrten in ihren berühmten Musiklexika des 19. und 20. Jahrhunderts, gesammelt im historischen Online-Lexikon von musikwissenschaften.de

Wechselnote (1929)

Wechselnote (italienisch: Nota cambiata, französisch: Note d'appogiature, "Vorschlagsnote") heißt die große oder kleine Ober- oder Untersekunde eines Akkordtons, wenn sie statt seiner in den Akkord eingestellt ist. Die Wechselnote ist am wenigsten auffällig, wenn sie der Hauptnote auf die leichte Zeit folgt und wieder zu ihr zurückleitet (eigentliche Wechselnote) oder zu einem neuen Akkordton überführt (Durchgangsnote). Ist sie aus der vorhergehenden Harmonie herübergebunden, so wird sie zum Vorhalt (siehe dort). Tritt sie auf die schwere Zeit frei ein, so ist sie die eigentliche Cambiata der älteren Lehre. Folgt sie auf die leichte Zeit, ohne stufenweise zurück oder weiterzuführen, d. h. wird von ihr abgesprungen, so ist sie die sogenannte "Fuxsche" Wechselnote (verlassene Wechselnote). [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, ]

Wechselnote (1882)

Wechselnote. Der Name Wechselnote wird gewöhnlich für die italienische Cambiata (Nota cambiata, französisch: Note d'appogiature, "Vorschlagsnote") gebraucht (1), aber auch in der Bedeutung eines Tons, der mit dem in den Akkord gehörigen abwechselt und eine Sekunde unter oder über diesem liegt (2); auch eine Nebennote, von welcher eine Terz nach unten gesprungen wird [3], heißt Wechselnote:

Wechselnoten (Riemann 1882)

Arten von Wechselnoten

Die letzte Art der Wechselnote ist alt (16. Jahrhundert); doch ist kein Grund vorhanden, analoge andre Bildungen zu verbieten, wie:

Wechselnote, "springender Durchgang"

Wechselnote, "springender Durchgang"

Eine bezeichnende Benennung für Wechselnoten dieser Art ist "springender Durchgang", der auch vorkommen kann als:

Wechselnote, "springender Durchgang"

Wechselnote, "springender Durchgang"

Eine andre Art freier kontrapunktischer Bildungen ist das Ergreifen der entgegengesetzten Nachbarnote des folgenden Tons ("fingierter Durchgang"):

Wechselnote, "fingierter Durchgang"

Wechselnote, "fingierter Durchgang"

[Riemann Musik-Lexikon 1882, 1003]

Wechselnote (1865)

Wechselnote, Nota cambiata.
a) In der modernen Musik [um 1865] eine melodische Nebennote, welche ihrer Hauptnote als halbe oder ganze Stufe ober- oder unterhalb auf der Thesis vorangeht und sie auf die Arsis drängt. Zur Harmonie, in deren Anschlage sie steht, erscheint die Wechselnote als Dissonanz, während die konsonante Hauptnote nachschlägt. In Beispiel 1 sind die mit + bezeichneten Noten Wechselnoten.

Wechselnote (Dommer 1865)

Wechselnoten (mit + gekennzeichnet)

Wechselnote (Dommer 1865)

Unter 1b entstehen die Wechselnoten daraus, dass Konsonanz und Dissonanz ihre Stellen im Rhythmus tauschen, um die melodische Fortschreitung fließender zu machen (irregulärer Durchgang, Transitus irregularis; siehe Kontrapunkt). Unter 1a sind sie nichts als melodischer Schmuck und kommen dann auch häufig zweifach vor, auf der nächsthöheren und -tieferen Stufe dem Haupttone voraufgehend (Beispiel 2a). Sie stehen an Stelle der mehrmaligen Wiederholung des Haupttones (2b). Die um den Hauptton sich herumbewegenden Figuren (2c) sind nichts anderes als eine melodische Vermanigfaltigung der einfachen Tonfolge (2d) durch Wechselnoten.

Wechselnote (Dommer 1865)

Wechselboten (2a und 2c)

Wechselnote (Dommer 1865)

Ob die Wechselnote eine halbe oder ganze Stufe gegen die Hauptnote ausmacht, hängt von der Beschaffenheit der Tonleiter ab. Die Wechselnoten vor [den Tönen] d und g heißen in C-Dur e und a, in C-Moll es und as; vor c heißt sie in F-Dur d, in F-Moll des; vor e in C-Dur f, in G-Dur fis etc. Doch gilt dieses im wesentlichen für die oberhalb des Haupttones auftretende Wechselnote. Die unterhalb desselben erscheinende beträgt, wenn sie melodische Verzierung ist (wie Beispiel 1a), lieber eine halbe als eine ganze Stufe (cis vor d, dis vor e, fis vor g auch in C-Dur, h vor c in F-Dur), doch kommt sie sowohl in diesem Falle, wie auch namentlich wenn sie im Fluss des Stimmenganges entsteht (1b) häufig als ganzer Ton vor.

Etwas sehr Gewöhnliches sind Wechselnoten in mehreren Stimmen zugleich (Beispiel 3); die Querstände unter 3b sind unschädlich, da sie nur durch Wechselnoten entstehen:

Wechselnote (Dommer 1865)

Wechselnoten in mehreren Stimmen

Als melodische Verzierung kommt die Wechselnote nur im freien Stil vor, als Abtauschung der Konsonanz durch die Dissonanz auf gutem Taktteil (1b) ist sie auch im Kontrapunkt gestattet.

b) In der älteren Musik erscheint die Nota cambiata als die nicht auf gutem, sondern auf schlechtem Taktteil der Hauptnote nachschlagende nächst tiefere Stufe, von der gewöhnlichen durchgehenden Note nur dadurch sich unterscheidend, dass sie nicht regulär stufenweise fortschreitet, sondern von ihrer eigentlichen Auflösung abspringt. Besonders häufig findet sie sich als Ausfüllung eines Quartensprunges abwärts, indem dieser dann nicht regulär in eine Terz und Sekunde (4a), sondern lieber irregulär in eine Sekunde und Terz zerlegt wird (4b). Das h in 4b ist also die Wechselnote. Gemeinhin geht dann die Quart eine Stufe aufwärts, wie in Beispiel 4 das g nach a. In Rezitativen ist sie sehr gewöhnlich (4c). Auch die nachschlagende harmoniefremde Note d in 4d ist eine ähnliche Wechselnote, welche an die Stelle der wiederholten Hauptnote c (4e) tritt. Ferner wird die in der bekannten Kadenzfigur (4f) den Leitton ablösende Sexte der Tonart bei den Alten als Wechselnote angesehen, und von Anfang des 15. Jahrhunderts bis ins 16. Jahrhundert hinein kommt diese Sexte als Wechselnote mit dem Leitton in der melodieführenden Stimme der Kadenz auch wie unter 4g vor:

Wechselnote (Dommer 1865)

Wechselnoten in älterer Musik

[Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 960f]

Wechselnote (1879)

Wechselnote, harmoniefremder Ton auf dem schweren Taktteil; seine Auflösung erfolgt wie die des Vorhalts, nur fehlt bei ihm die Vorbereitung; Wechselton, melodische Nebennote, Note cambiate (siehe Noten und Durchgang).

Wechselnoten (Riewe 1879)

Wechselnote, Wechselton

Wechselnoten (Riewe 1879)

[Riewe Handwörterbuch 1879, 287]

Wechselnoten (1879)

Wechselnote, italienisch: Note cambiata, französisch: Notes de passage, nannten die älteren Kontrapunktisten eine von der gewöhnlichen Weise abweichende Einführung der Dissonanz. Schon im einstimmigen Kirchengesange hatte man sich daran gewöhnt, einen Quartensprung nach unten dadurch melodischer zu machen, dass man nicht die Terz, sondern die Sekunde einschob, also nicht wie unter a), sondern wie unter b) sang:

Wechselnote, einstimmig

einstimmiger Kirchengesang

Und diese Weise behielt man auch im mehrstimmigen Kontrapunkt bei, so dass der eingeschobene Ton als Wechselnote harmoniefrei und zur Dissonanz wurde, die nicht in der gewöhnlichen Weise aufzulösen ist:

Wechselnote, mehrstimmig

mehrstimmiger Kontrapunkt

Bald wurde diese Weise zur stehenden beliebten Manier, und wir begegnen ihr schon häufig in den Werken von Josquin de Prés, Pierre de la Rue usw., namentlich häufig aber im 16. Jahrhundert. Besonders wusste auch Palestrina sie effektvoll zu verwenden; nicht minder Orlandus Lassus, wie in folgendem Beispiel:

Wechselnoten bei Orlando di Lasso

Wechselnoten bei Orlando di Lasso

Oder im 18. Jahrhundert Andreas Gabrieli:

Wechselnoten bei Andreas Gabrieli

Wechselnoten bei Andreas Gabrieli

Schon aus der protestantischen Kirchenmusik des 16. Jahrhunderts verschwand diese Art der Wechselnote allmählich; der neueren Praxis, die hier bald zur Herrschaft gelangte, erwuchsen andere Mittel der melodischen Ausschmückung, und so kam es, dass man im 19. Jahrhundert bereits solche feststehende Formeln prinzipiell vermied. Nur im Rezitativ erhielt sich noch länger als Reminiszenz an diese Art der Wechselnote die bekannte Schlussformel:

Wechselnote im Rezitativ, Schlussformel

Wechselnote im Rezitativ, Schlussformel

Jetzt bezeichnen wird die auf den Hauptzeiten eintretenden Dissonanzen als Wechselnoten:

Wechselnoten auf Hauptzählzeit

Wechselnoten auf Hauptzählzeit

Die moderne Musik [19. Jh.] hat diese Wechselnote hauptsächlich dazu verwendet, die langen Noten damit ausschmückend aufzulösen. So würde der nachstehende einfache Satz durch Einführung der Wechselnote sich viel reicher ausstatten lassen:

einfacher Satz ohne Wechselnoten

einfacher Satz ohne Wechselnoten

Wechselnote ist uns jetzt die über oder unter dem konsonierenden Hauptton gelegene große oder kleine Sekunde:

Satz mit Wechselnoten

Satz mit Wechselnoten

Führen wir beide Sekunden, die obere und die untere, ein, erhalten wir selbstverständlich eine noch reicher ausgeschmückte Melodie:

Wechselnoten, modern (19. Jh.)

Wechselnoten, modern (19. Jh.)

Die Instrumentalmusik hat in diesen Wechselnoten das trefflichste Mittel gewonnen, einen einfachen Satz in wirksamster Weise auszuschmücken und ihn eindringlicher wirkend zu machen. [Mendel/Reissmann Musikalisches Lexikon 1879, 300ff]

Wechselnoten (1807)

Wechselnoten. Man bezeichnet mit diesem Worte solche melodischen Nebennoten, die nicht in der zum Grunde liegenden Harmonie enthalten sind und welche die harmonischen Noten der Melodie aus dem Anschlage in den Nachschlag drängen, wobei jedoch die harmonischen Noten den Wechselnoten stufenweis folgen müssen, wie man aus dem [folgenden] Beispiele sieht, in welchem die Wechselnoten mit Sternchen bezeichnet sind.

Wechselnoten (Koch 1807)

*Wechselnoten

Wechselnoten (Koch 1807)

Diese Wechselnoten werden von einigen Tonlehrern der irreguläre Durchgang (transitus irregularis) genannt. [Koch Handwörterbuch Musik 1807, 390]