Cambiata (1872)

Cambiata (nota cambiata, italienisch). Unter die Dissonanzen, welche keiner Vorbereitung bedurften, rechneten die Kontrapunktisten auch ihre Wechselnote oder Cambiata. Die 'Wechselnote' der Alten war unserer heutigen [um 1870] Wechselnote (ein durchgehender Ton auf guter Taktzeit, siehe Wechselnote und "Konsonanz und Dissonanz") durchaus nicht ähnlich. die letztere war überhaupt im strengen Satz nicht gestattet, die Dissonanzen auf guter [betonter] Taktzeit durften nur als vorbereitete Vorhalte gebraucht werden.

Die Cambiata steht stets auf der leichten [unbetonten] Taktzeit und hat daher eher Ähnlichkeit mit dem gewöhnlichen Durchgang des strengen Satzes (siehe Durchgang). Sie hatte den Zweck, in gewissen Wendungen und bei schnellerer Bewegung die springende Fortschreitung einer Stimme von der schweren [betonten] zur leichten Taktzeit zu vermeiden. Es galt nämlich für leichter, einen Sprung auszuführen von der leichten zur schweren Taktzeit, als bei umgekehrter rhythmischer Stellung. Liegen nun das erste und das dritte oder das dritte und das fünfte oder das fünfte und das siebte Viertel eines Taktes, resp. das dritte oder siebte Viertel des einen und das erste Viertel des folgenden Taktes in der Skala um eine Quarte auseinander (Notenbeispiel a), so hat die Stimme bei Bewegung in Vierteln an einer Stelle einen Terzensprung auszuführen. Um diesen nun nicht während der Bewegung aus der schweren in die leichte Taktzeit machen zu müssen (Notenbeispiel b), war die sogenannte dissonierende Wechselnote ([gekennzeichnet mit] + bei Notenbeispiel c) gestattet. Die alten Komponisten verwendeten sie nur bei abwärts gehender Bewegung einer Stimme, und zwar fast immer so, dass der übersprungene Ton auf der nächsten schweren Taktzeit erscheint (Notenbeispiel c).

Cambiata (Mendel/Reissmann 1872)

Cambiata, Notenbeispiele

Cambiata (Mendel/Reissmann 1872)

Man behandelte diese Dissonanzen wie eine Konsonanz, und selbst dann, wenn in mehrstimmigen Sätzen andere Stimmen durchgehende Noten zu singen hatten, beachtete man ihr dissonierendes Verhältnis nicht, wie das folgende von H. Bellermann ("Contrapunkt", S. 82) gegebene Beispiel (d [nachfolgendes Notenbeispiel]) aus Palestrinas Motette "Ego sum panis" beweist. Cherunbini ("Cours de contrepoint", deutsch von Stöpel: "Theorie des Contrapunktes und der Fuge", Leipzig) hält ihre Anwendung für "ungerechtfertigt" und "fehlerhaft", weil eine unvorbereitete Dissonanz nur als stufenweiser Durchgang gebraucht werden könne. Dieser Ansicht tritt Bellermann entschieden entgegen, und zwar mit vollem Recht, da die Praxis guter Komponisten dieser allzu engherzigen theoretischen Anschauung Cherubinis widerspricht.

Cambiata (Mendel/Reissmann 1872)

Cambiata in Motette von Palestrina

Cambiata (Mendel/Reissmann 1872)

[Otto Tiersch, in: Mendel Musikalisches Lexikon 1872, 284]