Motette (1929)
Motette (lateinisch: Motetus, Mutetus, Motellus, Motecta, Modulus, Modulamen, Modulatio usw., italienisch: Motetto, französisch und englisch: Motet) ist seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts so viel wie mehrstimmige Bearbeitung eines Psalmverses oder sonstigen Bibelspruchs im imitierenden A-Cappella-Stil. Die Texte der Motetten sind in der Regel lateinisch, können aber auch deutsch oder in andern Sprachen abgefasst sein. Zwar sind nach 1600 vielfach Motetten mit Continuo oder mit mehreren Violinen usw., sogar Motetten für eine einzige Stimme (a voce sola) mit Begleitung geschrieben worden, doch blieb der A-Cappella-Stil der gewöhnliche.
Eine bestimmte Form der Motette gibt es nicht. Je nach der Ausdehnung des gewählten Textes sind die Motetten von sehr verschiedener Länge, gliedern sich etwa in zwei und mehr durch Taktart und Tempo unterschiedene Teile (secunda pars, tertia pars), z. B. das Magnificat (siehe dort).
Dem Namen nach ist die Motette eine Fortsetzung der Motets der Pariser Schule des 13. Jahrhunderts, welche über einem dem gregorianischen Choral entnommenen, wahrscheinlich nicht gesungenen Tenor (seltener über eine weltliche Volksmelodie) in einer oder auch zwei, ja drei Gegenstimmen (Diskanten) in kürzeren Notenwerten weltliche oder auch geistliche Lieder (meist gereimte) zum Vortrag brachten. Diese Art Motets bedeuten die erstmalige Emanzipation der Mehrstimmigkeit von dem Konduktenstil, dem gleichzeitigen Vortrag derselben Textsilben. Vgl. die Beispiele aus dem Codex H. 196 von Montpellier bei Coussemaker, L'art harmonique aux XIIe et XIIIe siècles (1865) und in Aubrys Ausgabe des Bamberger Motet-Codex (Cent motets du XIIe siècle, 1908, 3 Bde.). Einen Nachweis der Organum- und Motethandschriften gibt Fr. Ludwigs Repertorium… (Halle a. d. S. 1910). Nach den Erklärungen der Theoretiker, welche die Denkmäler bestätigen, bewegt sich im Motet jede der beteiligten Stimmen in einem andern der 5 oder 6 Modi (siehe dort). Was die Etymologie des nachher, besonders im 16. Jahrhundert, so vielfach verrenkten Worts motetus (siehe oben) anlangt, so definiert es Walter Odington (um 1300) als brevis motus cantilenae, d. h. motetus als französisch gebildetes Diminutiv von motus; Gerbert (De cantu… II. 129) bezieht es wohl glücklicher auf das französische mot (italienisch: motto, "Spruch"). Die Discantus vulgaris positio um 1200 hebt ausdrücklich hervor, dass der motetus nicht Note gegen Note des Tenors gesetzt, sondern von diesem in Notenwerten und Pausen verschieden ist. Bei dreistimmigen Motets wurde auch wohl die Mittelstimme speziell Motetus genannt.
Die Motetten des 14. Jahrhunderts repräsentieren insofern wieder einen ganz andern Typus, als in ihnen meist nur die Oberstimme gesungen wird, und Instrumente obligat mitwirken (auch in Vor-, Zwischen- und Nachspielen). Aus ihnen geht dann durch Ausscheidung der Instrumente und Einführung der motivischen Imitation die Motette der Epoche der Niederländer hervor. Vgl. Wilhelm Meyer, Der Ursprung des Motetts (Nachrichten der Göttinger Ges. der Wissensch. 1898, auch separat sowie in M.s Ges. Abhandlungen zur mittellateinischen Rhythmik II, 1905); Fr. Ludwig, Repertorium organorum… et motetorum… I, I (1910); derselbe, Die Quellen der Motetten ältesten Stils (Arch. f. MW. V, 3/4; 1923); H. Besseler, Die Motette von Franko von Köln bis Philipp von Vitry (AfMW. VIII, 2; 1927); Th. W. Werner, Anmerkungen zur Motettenkunst Josquins (ZfMW. VII); J. Handschin, Über den Ursprung der Motette (Basler Kongreßbericht 1924); H. Leichtentritt, Geschichte der Motette (1908), auch G. Eisenring, Zur Geschichte des mehrstimmigen Proprium missae bis um 1560 (1912, in Peter Wagners Veröffentlichungen der Gregorian. Akademie). Vgl. auch Anthem. [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 1214]