Motetto, Motette, Motet, Motecta (1877)

Motetto, Motette, Motet, Motecta (franz.: Motet), ist eine der ältesten Formen des Figuralgesanges. Der Name Motettus [sic] kommt schon bei Franco von Köln vor und bezeichnete nach seiner Erklärung eine freie Art des Discantus, eines mit mehreren Ligaturen ausgestatteten Gesanges gegenüber den anderen Kirchengesängen, welche strenger an den Cantus firmus gebunden sind, und mehrere Jahrhunderte hindurch wurde die diesen freieren Gesang führende Stimme Motetus [sic] genannt, als eine dritte (Triplum) und vierte (Quadruplum) ebenfalls diskantisierte. Daher dürfte die Ableitung des Namens von motus, die Bewegung, noch mehr Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen als jene andere, welche ihn auf Môt, Wort, Spruch, zurückführt, obgleich der Umstand dafür spricht, dass zum Text nicht wie bei den anderen Formen feststehende kirchliche Dichtungen, sondern Bibelsprüche nach freier Wahl genommen wurden. Dem aber entspricht auch die Behandlung; diese emanzipierte sich immer mehr von der älteren kirchlichen Praxis.

Wohl werden auch bei der Motette kirchlich sanktionierte Melodien zu Grunde gelegt, neben weltlichen, wie bei der Messe, und nicht selten als zwei- und mehrstimmige Kanons kontrapunktiert. Allein es geschieht das alles in bewegterer Weise, mit den reicheren Mitteln der Mensuralmusik. Es ist ein gewisser weltlicher Zug, der durch den Motettenstil hindurchweht und ihn dem Madrigalstil näher führt. Dabei wurde früh die Zweiteiligkeit üblich; wahrscheinlich durch den Parallelismus der Glieder der Psalmenverse angeregt, gliedert sich die Motette bald in zwei (Pars prima, pars secunda), mitunter auch in drei Teile, von denen jeder in eigentümlicher Weise den Textinhalt darlegt. Dabei wird nicht selten für jeden dieser Teile derselbe Cantus firmus beibehalten, er wird nur dem veränderten Text entsprechend auch anders kontrapunktiert.

So bot diese Form den Meistern schon den freieren Rahmen zur Entfaltung ihrer individuellen Empfindung. Dort, in den feststehenden Texten der Messe und der übrigen Kultusgesänge geben sie ihre eigene Innerlichkeit gefangen unter die Autorität und Anschauungsweise der Kirche. Und die immer wiederkehrenden, unverändert bleibenden Texte mussten doch schließlich immer mehr den Verstand als das Herz anregen, so dass sie jene mehr großartig gedachten als aus der Empfindung heraus geborenen künstlichen Form mit ihrer staunenerregenden Strenge der Entwicklung erzeugten. In den Texten der Motette dagegen erschloss sich den Meistern der ganze Gefühlsinhalt der heiligen Schrift und sie strömen ihn aus in nicht weniger heiligem und kunstvoll gefügtem, aber doch auch mehr menschlich wahrem Gesang. Diese Form wurde daher schon für die niederländischen Meister zum Ausdruck ihres persönlichsten Empfindens. Josquin besingt den Tod Okeghems; und Hieronymus Vinders, Benedict Ducis und Nicolaus Gombert geben wiederum in Trauermotetten ihrem Schmerz über den Heimgang ihres Meisters Josquin Ausdruck; Mouton aber beklagt den Tod der Königin Anna von Bretagne in einer Trauermotette: "Quis dabit oculis nostris fontem lacrimarum".

Die Motette wurde so zur förmlichen Gelegenheitsmusik. Die niederländischen Meister feierten mit ihr die Gewaltigen der Erde und große Ereignisse. Wie Kaiser Karls V. Auftreten, so veranlasste auch der Fall Konstantinopels (1453) solche Motetten, in denen ein gut gewählter Bibelspruch kontrapunktiert, ihm aber auch zugleich ein zweiter weltlicher beigegeben wurde, der direkt auf das entsprechende Ereignis Bezug nimmt. Als Motettentexte waren weiterhin die Sprüche des hohen Liedes, die Erzählung der Evangelien und vor allem die Passionen beliebt, nicht minder das Magnifikat, und bei einzelnen Meistern, wie bei Josquin oder Mouton, finden wir schon eine Innigkeit der Empfindung, wie kaum in anderen Gesängen aus jener Zeit. Wie emsig gerade diese Form gepflegt wurde, das beweisen die zahlreichen Sammlungen, welche schon von dem Erfinder des Notendrucks mit beweglichen Typen, Ottaviano dei Petrucci selber und kurz nach ihm von anderen veröffentlicht wurden. Die erste Sammlung von Petrucci (9. Mai 1502) enthält 33, meist vierstimmige Motetten; die zweite (10. Mai 1503) ebenfalls 33, die dritte (15. September 1504) 41.

Die Form machte selbstverständlich weiterhin die Wandlungen durch die verschiedenen Schulen mit, sie erscheint bei den Venetianern in der Pracht der harmonischen Ausgestaltung und wird von Orlandus Lassus und Pierluigi da Palestrina bis zur höchsten Vollendung nach dieser Richtung geführt. Seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts folgt sie wieder der neuen Richtung, welche namentlich durch die beginnende Selbstständigkeit der Instrumentalmusik und durch die Bestrebungen für Ausbildung des Musikdramas bestimmt wird. Wie zu allen übrigen Gesangsformen treten im 17. Jahrhundert die Instrumente auch zur Motette, anfangs nur die einzelne Stimme verstärkend, hinzu, später als Begleitung und endlich auch in selbstständiger Führung. Sie erfuhr dadurch nicht eigentlich ihrer formellen Gestaltung nach, sondern nur in Bezug auf Erfindung ihrer Motive und deren Verarbeitung eine wesentliche Änderung. Die Weise des Kolorierens und Diminuierens, d. h. die Auflösung und Ausschmückung der länger gehaltenen Töne des Gesanges in Noten und Notenfiguren von geringerem Wert ergriff auch die Vokalmusik. Jener kolorierte Gesang wurde auch in der Motette eingeführt, und es entstanden jetzt auch zahlreiche Motetten für Solostimmen. Damit gewannen die dramatischen Formen neue Mittel ihrer Entwicklung.

Wie die Motette auf die Entwicklung der Arie und de Ensemble- wie der einzelnen Chorsätze im Oratorium einwirkte und wie sie ferner auch die Instrumentalformen ganz bedeutsam herausbilden half, das ist hier nicht weiter zu erörtern. Aber auch als selbstständige Form erhielt sie sich bis auf die heutige Zeit [19. Jh.] und sie sollte noch in einer ganzen Reihe bedeutender Meister ihre Pflege finden und zwar vornehmlich in der protestantischen Kirche. Hier hatte sie im Choral das neue befruchtende Element gewonnen; unter dessen Einfluss gelangte sie zu hoher Blüte. Schon die venetianische Schule ist bemüht, der Form der Motette durch festeren Anschluss an das Wort erhöhteren individuellen Ausdruck zu geben. Doch erst durch ihre Verschmelzung mit dem Lied und dem Choral gelangte sie dazu. Die protestantischen Meister seit Walter und Senffl hatten zunächst die Choralstrophen motettenhaft verarbeitet und während dieser Zeit wurde die Motette noch meist in alter Weise behandelt. In der großen Motettensammlung, welche Bodenschatz 1603 herausgab, sind die meisten noch über lateinische Texte komponiert. Erst von da an gewinnen die deutschen Texte nach Luthers Übersetzung das Übergewicht. Melchior Frank war einer der ersten, der sich diesem Zuge anschloss und in welchem er zugleich die ersten reifen Früchte trieb. Frank geht dem Wortausdruck mit emsigster Geschäftigkeit nach, zugleich ist er aber auch bemüht, die neue Motettenform, wenn auch nicht so eng, doch eben so symmetrisch zu gliedern und in sich abzuschließen, wie beim Lied und Choral. Er weiß der Motette die rechte metrisch gegliederte Form zu geben, als welche sie dann bis auf Joh. Seb. Bach treu gepflegt wurde, und wie sie dieser Meister zur höchsten Blüte brachte, das ist bekannt. Sie ist seitdem eine wesentliche Gesangsform des protestantischen Kultus geblieben und von großen und kleinen Mesitern, Homilius, Hiller, Rolle, Schicht, Friedrich Schneider, Mühling, Mendelssohn, Grell usw., gepflegt worden. [Mendel/Reissmann Musikalisches Lexikon 1877, 177ff]