Recitativ (1882)

Recitativ [heutige Schreibweise: Rezitativ] (italienisch: Recitativo, von lateinisch recitare, "erzählen") heißt diejenige Art des Gesangs, welche zu Gunsten der natürlichen Akzentuation und selbst des Tonfalls der Worte das rein musikalische Element auf ein Minimum beschränkt, sowohl hinsichtlich der Melodiebildung als der rhythmischen Gliederung, sozusagen die prosaische Rede des Gesangs.

Die Erfindung des Rezitativs fällt zusammen mit der Entstehung der Oper. Das Bestreben, dem durch kontrapunktische Künste von der Musik ganz überwucherten poetischen Text wieder zu seinem Recht zu verhelfen und einen natürlichen Ausdruck der Empfindung im Gesang zu ermöglichen, führte auf dem Weg ästhetischen Räsonnements zur Erfindung des Stilo rappresentativo, dessen Kern das Rezitativ ist. Die Instrumentalbegleitung, welche gleich von seinen Schöpfern Peri, Caccini, Cavalieri dem Rezitativ beigegeben wurde, war zunächst nichts weiter als eine harmonische Stütze für die Sicherheit der Intonation, ein bezifferter Bass (siehe Generalbass), welcher auf dem Klavier oder auf der Laute, Theorbe, Gambe ausgeführt wurde. Erst die Förderer des dramatischen Stils, voran Monteverde und später Alessandro Scarlatti, gestalteten die Begleitung des Rezitativs lebendiger und schufen das Accompagnato, das Rezitativ mit ausgearbeiteter, musikalisch bedeutsamerer Begleitung, während das Rezitativ mit Generalbass als Seccorezitativ oder schlechtweg Secco sich daneben bis in unsre Zeit hielt. Den Übergang vom Rezitativ zu der zuerst in der Kirche und Kammer ausgebildeten Arie bildet das Arioso.

Das moderne Rezitativ, wie es z. B. Wagner schreibt, unterscheidet sich von dem älteren nur dadurch, dass der Musik wieder ein reicherer Anteil zugewiesen ist und die Instrumentalmusik interessante Gestaltungen entwickelt, während die Singstimme im getreuen Anschluss an die (kunstgemäß gesteigerte)natürliche Deklamation sich frei bewegt. Das Vollkommenste dieser Art ist vielleicht der Dialog von Hans Sachs und Eva im zweiten Akte der "Meistersinger". Wenn es den ersten Schöpfern des neuen Stils nicht gleich gelang, der Sprache die natürlichste Art der Deklamation abzulauschen, sondern sie anfänglich in das ihnen als Sologesang so ziemlich als einziges Muster vorliegende Psalmodieren des Gregorianischen Gesangs gerieten, so ist das gewiss nicht verwunderlich. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 746f]