Musiklexikon: Was bedeutet Enharmonik?

Enharmonik, enharmonische Verwechslung (1929)

Enharmonik (griechisch),
1) bei den Griechen siehe Griechische Musik. über Spuren antiker Enharmonik im gregorianischen Choral schrieben A. J. H. Vincent (s. d.) und Jos. Gmelch Die Viertelstufen im Meßtonale von Montpellier (Eichstätt 1911).

2) Heute das Verhältnis von Tönen, welche nach den mathematischen Bestimmungen der Tonhöhe und teilweise auch in der Notenschrift verschieden sind, in der musikalischen Praxis unseres temperierten Systems aber identifiziert werden; zum Beispiel f und eis, h und ces usw.; vgl. diatonisch und Diesis. Die unter Tonbestimmung gegebene Tabelle weist für jede Taste unseres Klaviers eine große Zahl verschiedener akustischer Bestimmungen auf, die der mittlere Wert der gleichschwebenden Temperatur vertritt, d. h. die für uns enharmonisch identisch sind.

Unter enharmonischer Verwechslung versteht man die Vertauschung solcher eigentlich verschiedenen Werte. Diese Vertauschung ist entweder nur eine Erleichterung fürs Lesen, wenn nämlich statt der Schreibweise mit # vorübergehend die mit gewählt wird oder umgekehrt, oder aber (besonders wenn nur ein Ton umgedeutet wird), sie bedeutet ein wirkliches Umspringen der Auffassung (z. B. wenn a-c-dis-fis, das nach E-Moll gehört, zu a-c-es-fis umgedeutet wird, das nach G-Moll gehört.

Die Möglichkeit der enharmonischen Identifikation ist die Lösung des Rätsels, wie sich unsere Auffassung mit der gleichschwebenden Temperatur vollbefriedigt abfindet, so dass die Bestrebungen für Durchführung der reinen Stimmung (unter Ausschluss der Temperatur) keine Aussicht auf Erfolg haben, weil sie gar nicht einem ästhetischen Bedürfnis entspringen.

Einen Versuch, die Halbtonchromatik der modernen Musik zur Vierteltonchromatik oder -enharmonik zu steigern, die dem wirklichen Portament der Tonverbindung noch näher kommt als jene, hat 1906 Rich. H. Stein (s. d.) mit seinen Stücken op. 26 für Cello u. Klavier gemacht. Seitdem hat Busoni für eine Bereicherung des Tonsystems durch Unterteilung in Drittel- und Sechsteltöne plädiert, A. Hába u. a. haben Instrumental- und Vokalmusik im Vierteltonsystem geschrieben usw. (vgl. Vierteltonmusik). Alle diese Versuche gehen über die Tatsache hinweg, dass unser Tonsystem das Resultat einer Abklärung ist; ihr Raffinement ist eigentlich nur eine Rückkehr zur Primitivität. Vgl. Jos. Würschmidt, Viertel- und Sechsteltonmusik (1921); ferner Hába. [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 467]

Enharmonik, enharmonisches Tongeschlecht, enharmonische Verwechslung (1882)

Enharmonik (griechisch) ist das Verhältnis von Tönen, welche nach den mathematischen Bestimmungen der Tonhöhe und teilweise auch in der Notenschrift verschieden sind, in der musikalischen Praxis aber identifiziert werden, zum Beispiel f und eis, h und ces etc.

Die alten Griechen unterschieden neben dem diatonischen und chromatischen ein enharmonisches Tongeschlecht, bei welchem die beiden mittleren Töne des Tetrachords durch Herabstimmung des höheren auf gleiche Tonhöhe gebracht wurden (e, f, f, a). Dies war wenigstens die älteste Form der Enharmonik (Ulympos). Die spätere Enharmonik trennte die beiden eigentlich identischen Töne, setzte die Entfernung des dritten vom tiefsten = ½ Ton und gab dem zweiten eine mittlere Tonhöhe:

Enharmonik (Riemann 1882)

(siehe Griechische Musik).

Das 16. Jahrhundert brachte mit seiner Gräkomanie auch das enharmonische Tongeschlecht wieder auf, und verschiedenartige mathematische Erklärungen desselben wurden versucht. Die damals aufgestellten minimalen Tonhöhendifferenzen wurden enharmonische Diësen genannt (vergleiche Diësis). Das praktische Ergebnis dieser für ihren eigentlichen Zweck fruchtlosen Bemühungen war die Erkenntnis, dass ein und demselben Ton unseres Musiksystems verschiedene mathematische Werte zukommen, dass aber unsere praktische Musik für dieselben nur Näherungswerte gibt und geben kann. So begriff die Theorie allmählich die von der Praxis längst angebahnte gleichschwebende Temperatur, welche die annähernd gleichen Werte gleichsetzt (enharmonisch identifiziert). Die unter "Tonbestimmung" gegebene Tabelle weist für jede Obertaste unseres Klaviers 8 und für jede Untertaste 13 verschiedene akustische Bestimmungen auf, welche der mittlere Wert der gleichschwebenden Temperatur vertritt, d. h. die für uns enharmonisch identisch sind.

Unter enharmonischer Verwechslung versteht man die Vertauschung solcher eigentlich verschiedenen Werte. Diese Vertauschung ist entweder nur eine Erleichterung fürs Lesen, d. h. es wird statt der Schreibweise mit Been [sic] vorübergehend die mit Kreuzen gewählt, oder aber (besonders wenn nur ein Ton umgedeutet wird) sie bedeutet ein wirkliches Umspringen der Auffassung. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 243f]

Enharmonik, Enharmonisch (1865)

Enharmonik, Enharmonisch (ἐναρμόνιoς [enarmonios, altgriechisch, "in der Harmonie"]), heißt ursprünglich nichts anderes als harmonisch, hat dann aber verschiedene besondere Bedeutungen angenommen.

a) Enharmonisches Klanggeschlecht bei den Griechen, siehe Tetrachord, Chromatisch, Klanggeschlecht.

b) In der modernen Musik ist das, was wir Enharmonik nennen, wesentlich von dem verschieden, was die Griechen darunter begriffen, ein enharmonisches Klanggeschlecht in ihrem Sinne haben wir nicht. Unsere Enharmonik - die Tonbestimmungen des temperierten Systems angenommen - ist nichts anderes als Verwechselung derjenigen diatonisch-chromatischen Tonstufen, welche nur verschieden benannt, sonst aber in einerlei Tongröße ausgeübt werden: [zum Beispiel] cis-des, dis-es, eis-f. Die enharmonische Tonleiter ist dem Klange nach nichts als eine diatonisch-chromatische und eigentlich nur in der Notierung von dieser abweichend. Ihre Enharmonik besteht nur in einer Verwechselung der durch ein ♯ erhöhten nächsttieferen mit der durch ein ♭ erniedrigten nächsthöheren Stufe, welche beiden aber mittels ein- und derselben Saite intoniert werden: c, cis-des, d, dis-es, e, eis-f etc. (siehe Klanggeschlecht). Im reinen Quintsystem sowohl als in den Intervallbestimmungen des reinen diatonischen Systems [siehe reine Stimmung] sind die durch Bindebögen [oben durch Bindestriche ersetzt] zusammengezogenen Töne, die wir enharmonische Töne nennen, tatsächlich verschieden: Im Quintsystem reicht der Kreuzton über den B-Ton der nächsthöheren Stufe, z. B. cis über des, dis über es hinaus, des ist also tiefer als cis etc., wie diese Intervalle solchergestalt auf Instrumenten, deren Tonhöhen nicht fest nach der temperierten Skala gegeben sind, auch in Wirklichkeit ausgeübt werden. Der Violinspieler oder Sänger nimmt cis höher als des. Im reinen diatonischen System hingegen erreichen sie sich nicht völlig, cis ist kleiner als des, es bleibt ein Zwischenraum zwischen ihnen (die Diesis, das Verhältnis 128:125). Aber auch in der gleichschwebenden Temperatur fasst das Ohr die enharmonischen Töne als verschiedene Tongrößen (indem es die natürlichen Verhältnisse derselben unwillkürlich an die Stelle der künstlich temperierten setzt), sobald sie in ihren Beziehungen zu ihren verschiedenen Tonkreisen [Tonarten] erscheinen, sobald angenommen der Ton gis in as verwandelt, seine Beziehung zu E-Dur oder A-Dur aufgibt und als Bestandteil von Es-, As- etc. Dur oder Moll sich geltend macht.

Das Vertauschen zweier nebeneinander liegenden enharmonischen Stufen von einerlei Tongrößen zum Zwecke der Hinüberführung in einen anderen Tonkreis [Tonart], nennt man enharmonische Verwechselung oder enharmonische Ausweichung. Einiges über die Verwendung der Enharmonik zum Zwecke der Ausweichung ist schon im Artikel Ausweichung, Beispiel 8, gegeben; hier nur noch einige Beispiele und nähere Erläuterungen.

Enharmonik (Dommer 1865)

Enharmonik, Enharmonische Verwechslung

Unter Notenbeispiel 1a löst sich der Dominantseptimenakkord f-a-es regulär in seine Tonart B auf, unter 1b aber ist die Septime vor ihrer Auflösung mit dem gleichlautenden dis enharmonisch verwechselt, mithin der Akkord f-a-es zugleich in den übermäßigen Sextakkord f-a-dis umgewandelt; das dis und dieser letztere Akkord setzen aber eine andere Tonart als B-Dur voraus, nämlich A-Dur oder E-Dur oder -Moll (Beispiele 1b, 1c, 1d). Der Akkord gis-h-d-f in Beispiel 2 bezeichnet A-Moll, durch die enharmonische Verwechselung des gis und h in as und ces wird aber in die Tonart Es-Moll oder Es-Dur ausgewichen. Ähnlich unter Beispiel 3 von C-Moll nach Fis-Moll, unter 4 von F-Moll nach D-Moll, unter 5 von G-Moll nach H-Moll und unter 6 von As-Moll nach A-Dur.

Das Charakteristische dieser enharmonischen Ausweichungen liegt im Unerwarteten und Überraschenden, das Tongefühl sieht sich plötzlich in eine ganz andere Region versetzt; und zwar tritt diese Eigenschaft in einem stärkeren oder schwächeren Grade hervor, je mehr oder weniger weit die Tonart, in welche ausgewichen wird, von der Tonika entfernt liegt. Hiernach lässt sich leicht bestimmen, in welchen Fällen und in welchen Graden hinsichtlich ihrer Wirkung man von solchen Ausweichungen Gebrauch machen kann. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 285f]