Musiklexikon: Was bedeutet Orgelpunkt?

Orgelpunkt (Koch 1807)

Der musikalische Fachbegriff "Orgelpunkt", kompetent erläutert und mit zahlreichen Noten- und Klangbeispielen versehen von Musikologen in ihren berühmten Musiklexika des 19. Jahrhunderts.

Orgelpunkt (1882)

Orgelpunkt nennt man einen lang ausgehaltenen Basston, über welchem die Harmonien bunt wechseln, besonders kurz vor dem Schluss einer Komposition, wo der Orgelpunkt in der Regel über der Quinte der Tonart auftritt, gewöhnlich mit dem Quartsextakkord beginnend.

Der Orgelpunkt dieser Art ist schon alt. Franko von Köln (12. bis 13. Jahrhundert) erwähnt ihn in der "Ars cantus mensurabilis" (Gerbert, "Script.", III; Coussemaker, "Script.", I): "usque ad notam penultimam" (die vorletzte, nicht die letzte, wie zum Beispiel im Mendelschen Lexikon [Musikalisches Conversations-Lexikon] zu lesen), "ubi non attenditur talis mensura, sed magis est ibi organicus punctus" (Kap. 11). Organicus punctus heißt nämlich eine Note von unbestimmt langer Geltung, wie beim Organum (siehe dort) des 12. Jahrhunderts, wo über einem Tenor aus dem Antiphonar floriert kontrapunktiert wurde und die Noten des Tenors als Longae notiert wurden, aber eine ganz verschieden lange, meist viel längere Geltung hatten, die nicht geregelt war, sondern sich ganz nach dem Kontrapunkt richtete, den der Sänger des Tenors natürlich auch vor Augen haben musste.

Bedingung der guten Wirkung eines Orgelpunkts ist, dass er zu Anfang und zu Ende gut tonal ist, während er in der Mitte sich ganz frei durch fremde Harmonien bewegen kann. Seine ästhetische Bedeutung ist die einer Verzögerung der Konsonanz vom Durakkord des Basstons, d. h. im Grunde dieselbe wie die des Quartsextakkords, welcher als der eigentliche Keim des Orgelpunkts anzusehen ist. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 654f]

Orgelpunkt (1882)

Orgelpunkt (lateinisch: Punctus organicus, französisch: Point d'Orgue, italienisch: Cadenza). Schon bei Franco von Cöln [sic] in seinem oft angeführten Traktat: "Musica et cantus mensurabilis" findet sich die Bezeichnung Punctus organicus für die letzte, länger gehaltene Note, bei welcher ein bestimmtes Maß, wie bei den vorhergehenden, nicht mehr nötig wird, weil sie ein Ruhepunkt ist. Zu Tinctoris' Zeit wurde sie schon mit einem Halt [Zeichen für die Fermate] versehen, wie aus seiner Erklärung im "Diffinitorium" hervorgeht. Die wachsende Lust am Diskantisieren und Organisieren wagte sich dann auch an diesen Ruhepunkt. Nur die eine Stimme hielt ihn fest und die anderen kontrapunktierten und diskantisierten ruhig weiter.

In den kontrapunktierenden Stimmen ist meist ein so reiches Leben entwickelt, dass es ästhetisch gerechtfertigt ist, dies allmählich zur Ruhe zu führen, während die den Cantus firmus führende Stimme den Schlusston desselben durch mehrere Takte hindurch unverändert festhält. Die Dauer desselben wurde daher auch selten angegeben. Die Sänger hielten ihn so lange, bis alle Stimmen zum Schluss gekommen waren. Als dann die Bezeichnung Organum als ausschließlicher Name auf das betreffende Instrument - Orgel genannt - überging, wurde in naturgemäßer Folge auch der Punctus organicus zum Orgelpunkt, obgleich er ebenso bei der Vokalmusik und bei den übrigen Instrumenten wie bei der Orgel seitdem häufig zur Anwendung kommt und als ein bedeutendes Mittel zur Formvollendung instrumental wie vokal reichste Ausbildung erhalten hat. Der Orgelpunkt wird auch heute noch [um 1880] zunächst ganz in alter Weise angewendet, um den Schluss eines Tonstückes energisch auszuprägen. [Reissmann Handlexikon 1882, 348f]

Orgelpunkt (1879)

Orgelpunkt, aushaltende Kadenz, lateinisch: Corona, französisch: Point d'orgue, im Allgemeinen ein zu mehreren Harmonien nach Orgelart, d. h. in einer dem Fortklingen der Orgel gemäßen Weise, beibehaltener Bassgrundton; besonders eine Stelle am Schluss gewisser meist kirchlicher Tonstücke, bei welcher die oberen Stimmen eine Zeit lang zum Schluss sich fortbewegen, während die Bassstimme schon längst den Schlusston festhält. Die Intervalle der Zusammenklänge machen dabei unter sich stets ein (gleichviel ob konsonantes oder dissonantes) Akkordverhältnis aus, worin jedoch der liegende Bass nicht immer mit eingeschlossen zu sein braucht.

Der Orgelpunkt (Binde- oder Halteton) [Notenbeispiel]

Der Orgelpunkt steht innerhalb eines Tonstücks nach vorangegangener Modulation auf der Dominante, zu Anfang und am Schluss eines solchen auf der Tonika. Er erscheint

  1. einfach, wenn er nur leitereigene Harmonien (A)
  2. erweitert, wenn er auch entferntere über sich hinweggehen lässt (B).
Orgelpunkt (Riewe 1879)

einfacher Orgelpunkt

Takt 4 bis 6 nennt man Umkehrung des Orgelpunktes.

(Aus der Mitte eines Satzes.)

Orgelpunkt (Riewe 1879)

erweiterter Orgelpunkt

Am wirksamsten tritt der Orgelpunkt im Basse oder im Sopran auf, weniger wirksam ist er bei einer Mittelstimme. [Riewe Handwörterbuch 1879, 189 und 305f]

Orgelpunkt (1865)

Orgelpunkt, Punctus organicus, Point d'Orgue, Angehaltene Kadenz, Corona. Eine Folge von Zusammenklängen über einem angehaltenen Bass. Die Intervalle der Zusammenklänge müssen unter sich stets ein (gleichviel ob konsonantes oder dissonantes) Akkordverhältnis ausmachen, worin jedoch der liegende Bass nicht immer mit eingeschlossen zu sein braucht. Denn es dürfen Akkorde vorkommen, zu denen er in keinem Dreiklangs- oder Septimenverhältnis steht, nur muss die ganze Harmoniefolge immer hin und wieder mit Akkorden untermischt sein, denen er allerdings als akkordeigener Bestandteil angehört, damit sein Verhältnis zur Harmoniefolge nicht aufgehoben werde. Letztere besteht entweder aus der Tonart durchaus leitereigenen Akkorden (Notenbeispiel 1) oder ist mit modulierenden Akkorden und kurzen Ausweichungen untermischt (Notenbeispiel 2), in welchem Fall Folgen von verminderten Septimakkorden sehr gewöhnlich sind (Notenbeispiel 3).

Orgelpunkt (Dommer 1865)

Orgelpunkt, Notenbeispiele

Orgelpunkt (Dommer 1865)

Orgelpunkt (Dommer 1865)

Orgelpunkt (Dommer 1865)

Soviel Akkordverständnis als nötig, um die Akkorde, auch da wo der Bass nicht ein Bestandteil derselben ist, zu erkennen, darf hier vorausgesetzt werden.

Orgelpunktartig liegende Stimmen, über welche andere Stimmen einen auf- und absteigenden Gesang ausführen, kommen schon in sehr alter Zeit vor, wie z. B. die von Joannes de Muris (Gerb. Scriptores III. 239) beschriebene Diaphonia basilica und eine Art der noch weit früheren Guidonischen Diaphonie (siehe dort). Der Name Punctus Organicus aber mag erst später entstanden sein als die Sache selbst, nämlich als man anfing, bei den in gebundener Schreibart abgefassten vielstimmigen Kirchenstücken den letzten Schlussfall in den Hauptton mittels der in der Grundstimme fortklingenden Dominante aufzuhalten und dazu in den Oberstimmen entweder einen Teil des Hauptsatzes noch einmal kurz durchzuführen oder die zuletzt vorangehende Melodie noch durch eine Verwickelung verschiedener Akkorde auszuspinnen, um einen recht breiten und gewichtigen Schluss zu erhalten, wobei die begleitende Orgel auf der Dominante einen Ruhepunkt macht, während die anderen Stimmen sich fortbewegen. Hieraus erklären sich auch der Ausdruck Angehaltene Kadenz sowie die mit Fermate gleichbedeutende Benennung Corona ohne weiteres von selbst. […] [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 659f]

Orgelpunkt (1840)

Orgelpunkt, italienisch: Cadenza, französisch: Point d'orgue; eine fortgeführte harmonische Verflechtung von Akkorden in den Oberstimmen bei ausgehaltenem Bass. Eine solche verzögerte Kadenz tritt gewöhnlich gegen den Schluss eines Tonstückes ein - und in der Fuge vorbereitend auch da, wo die verschiedenen Stimmen zusammenfallen und ausruhen sollen.

Der Bass ruht entweder auf der Dominante oder auch auf dem Grundton, während die anderen Stimmen kanonische Imitationen, aus dem Thema entnommen, hören lassen und sich allmählich dem ausgehaltenen Grundton anschließen.

Es ist dies das letzte und stärkste Mittel, einen modulationsreichen Satz entscheidend und mit voller Sättigung in den Hauptton zurück und zum Schluss hinzuführen. Solche Stellen findet man vorzüglich in Orgelsätzen und haben daher auch ihren Namen, weil die Orgel bei ihrem gleich stark fortklingenden Ton sich besonders für gebundene Harmonien eignet.

Orgelpunkt (Gathy 1840)

Orgelpunkt (Schicht)

[Gathy Encyklopädie Musik-Wissenschaft 1840, 342]

Orgelpunkt (1807)

Orgelpunkt (französisch: Point d'orgue) oder anhaltende Cadenz [Kadenz] ist eigentlich eine Aufhaltung der Finalkadenz in Fugen oder fugenartigen Sätzen, die dadurch entsteht, dass auf der dem Schlussfall vorhergehenden Dominante der Grundstimme einige Takte hindurch entweder ein Teil des Hauptsatzes in den übrigen Stimmen wiederholt und nachgeahmt oder die vorhergehende Melodie in verschiedenen harmonischen Verwicklungen fortgesetzt wird, wie bei [folgendem Notenbeispiel], wo man zugleich sieht, dass ein solcher Orgelpunkt auch noch auf der Tonika der Grundstimme fortgesetzt werden kann.

Orgelpunkt (Koch 1807)

Notenbeispiel Orgelpunkt

Orgelpunkt (Koch 1807)

Von diesen anhaltenden Kadenzen hat man die Veranlassung genommen, jeden Satz, in welchem die Grundstimme einige Zeit auf einem Tone liegen bleibt und die übrigen Stimmen über derselben abwechselnde Akkorde bilden, einen Orgelpunkt zu nennen. [Koch Handwörterbuch Musik 1807, 263]