Orgelpunkt (1865)

Orgelpunkt, Punctus organicus, Point d'Orgue, Angehaltene Kadenz, Corona. Eine Folge von Zusammenklängen über einem angehaltenen Bass. Die Intervalle der Zusammenklänge müssen unter sich stets ein (gleichviel ob konsonantes oder dissonantes) Akkordverhältnis ausmachen, worin jedoch der liegende Bass nicht immer mit eingeschlossen zu sein braucht. Denn es dürfen Akkorde vorkommen, zu denen er in keinem Dreiklangs- oder Septimenverhältnis steht, nur muss die ganze Harmoniefolge immer hin und wieder mit Akkorden untermischt sein, denen er allerdings als akkordeigener Bestandteil angehört, damit sein Verhältnis zur Harmoniefolge nicht aufgehoben werde. Letztere besteht entweder aus der Tonart durchaus leitereigenen Akkorden (Notenbeispiel 1) oder ist mit modulierenden Akkorden und kurzen Ausweichungen untermischt (Notenbeispiel 2), in welchem Fall Folgen von verminderten Septimakkorden sehr gewöhnlich sind (Notenbeispiel 3).

Orgelpunkt (Dommer 1865)

Orgelpunkt, Notenbeispiele

Orgelpunkt (Dommer 1865)

Orgelpunkt (Dommer 1865)

Orgelpunkt (Dommer 1865)

Soviel Akkordverständnis als nötig, um die Akkorde, auch da wo der Bass nicht ein Bestandteil derselben ist, zu erkennen, darf hier vorausgesetzt werden.

Orgelpunktartig liegende Stimmen, über welche andere Stimmen einen auf- und absteigenden Gesang ausführen, kommen schon in sehr alter Zeit vor, wie z. B. die von Joannes de Muris (Gerb. Scriptores III. 239) beschriebene Diaphonia basilica und eine Art der noch weit früheren Guidonischen Diaphonie (siehe dort). Der Name Punctus Organicus aber mag erst später entstanden sein als die Sache selbst, nämlich als man anfing, bei den in gebundener Schreibart abgefassten vielstimmigen Kirchenstücken den letzten Schlussfall in den Hauptton mittels der in der Grundstimme fortklingenden Dominante aufzuhalten und dazu in den Oberstimmen entweder einen Teil des Hauptsatzes noch einmal kurz durchzuführen oder die zuletzt vorangehende Melodie noch durch eine Verwickelung verschiedener Akkorde auszuspinnen, um einen recht breiten und gewichtigen Schluss zu erhalten, wobei die begleitende Orgel auf der Dominante einen Ruhepunkt macht, während die anderen Stimmen sich fortbewegen. Hieraus erklären sich auch der Ausdruck Angehaltene Kadenz sowie die mit Fermate gleichbedeutende Benennung Corona ohne weiteres von selbst. […] [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 659f]