Musiklexikon: Was bedeutet Diaphonia?

Diaphonia (1865)

Diaphonia (griechisch).
A. Bei den Griechen die Dissonanz, siehe Konsonanz und Dissonanz.

B. Eine den ersten Anfängen mehrstimmiger Setzart angehörende Verbindung gleichzeitiger Töne oder Melodien. Guido von Arezzo erklärt sie (Mocrologus cap. 18, Gerbert II. 21) für eine vocum disiunctionem "quam nos organum vocamus, cum disiunctae ab invicem voces et concorditer dissonant, et dissonantes concordant", also für eine Verschiedenheit von Tönen (Tonreihen), Organum genannt, welche in ihrer Verschiedenheit doch konsonierend zusammenstimmen. Sie entsteht, wenn jedem Tone eines Gesanges unterhalb die Quart und oberhalb die Quint (also die Oktave der Quart) beigegeben wird. Die Mittelstimme ist der eigentliche Gesang, die Unterstimme in der Quart das Organum und die Oberstimme die Oktavverdopplung des letzteren. Die ganze Tonfolge bewegt sich in parallelen Quarten mit darüber liegenden Quinten (Quarten und Oktaven), wie folgendes Beispiel nach Gerbert (II. 21) zeigt:

Diaphonia (Dommer 1865)

Diaphonia, in Tonbuchstaben notiert

Diese Art Diaphonie, die man durch Verdopplung der Mittelstimme in der höheren Oktave auch vierstimmig machen konnte, desgleichen eine in Quinten und Oktaven statt in Quarten und Oktaven fortschreitende, hat man schon an 100 Jahre vor Guido gekannt, und Hucbald (Musica Enchiriadis) hat sie beschrieben. Guido erklärt sie für hart (superior nempe diaphoniae modus durus est), wobei man aber nicht etwa an unser Moll und Dur zu denken hat. Das Hauptintervall derselben ist die Quarte, außerdem werden der ganze Ton [Ganzton, große Sekunde], die große Terz und auch die kleine Terz, letztere jedoch unter diesen Intervallen den niedrigsten Rang einnehmend, zugelassen, der Halbton und die Quinte hingegen ausgeschlossen. Doch war auch diese verschiedene Intervalle enthaltende Diaphonie nichts Neues, sondern gleichfalls schon von Hucbald bekannt, wie die Beispiele in seiner Musica Enchiriadis, von denen Guido aber nichts gewusst zu haben scheint, beweisen. Die Tropen (Tonarten) sind nach Guido von verschiedener Brauchbarkeit zu dieser Art von Diaphonie, je nachdem sie die geeigneten Intervalle in ihrem Ambitus gestatten. Im 19. Kapitel des Micrologus gibt er eine Anzahl Beispiele. Die verschiedenen Arten der Diaphonie in Hinsicht auf die in ihnen vorkommenden Zusammenklänge, nämlich ob sie wesentlich aus Quarten besteht oder Terzen und ganze Töne enthält, ferner (wie meist der Fall) im Einklang schließt oder in der Quart, nennt er distinctiones; das Zusammentreffen der Töne zu den gestatteten Intervallen, als Einklang, ganzer Ton [große Sekunde], Terz oder Quart im Verlaufe oder am Ende, heißt occursus.

Einige der bei Guido (wie obiges Beispiel) mit Buchstaben notierten Proben mögen hier in Noten folgen. Die Distinktion Beispiel 2a) steht im deutero E, in qua ditoni occursus vel simplex vel intermissus placet; 2b) in proto D, mit einem occursus im Einklang am Ende; in der Distinktion 2c) steigt das Organum über den Gesang und während es am Schluss das f hält, macht die Oberstimme eine Art Neuma; in 2d) liegt es, wie eine Art Falso bordone, auf demselben Ton, während der Gesang auf- und abwärts sich hindurchbewegt.

Diaphonia (Dommer 1865)

Diaphonie, Notenbeispiele nach Guido von Arezzo

Diaphonia (Dommer 1865)

Diaphonia (Dommer 1865)

Diaphonia (Dommer 1865)

Vergleiche auch Forkel, Gesch. II 255; Kiesewetter, Gesch. der Europ. Abendl. M. 24.

Die Beispiele reichen wohl hin, um die Beschaffenheit dieser ersten Versuche einer Art von Kontrapunkt zu erklären, auch die Erweiterungen der Harmonie, welche darin im Vergleich zum älteren Organum sich vorfinden, zu zeigen. Mögen diese Versuche unserem Gehör immerhin auch noch so sehr widerstreben, so muss man sie, gegen das ältere Quinten- und Quarten-Organum gehalten, doch einen Schritt zur Entwicklung mehrstimmiger Setzart nennen, indem verschiedene Intervalle in mannigfacher Anwendung darin auftauchen, während jene Quint- und Oktavfolgen, auch wenn man von allem Missklang ganz abzusehen vermöchte, doch weiter nichts sind als ein harmonisch verstärkter Einklang. Siehe Organum. Über die Quintendiaphonie vergleiche auch den Artikel Harmonie. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 233f]

Diaphonia (1882)

Diaphonia,
1. griechischer Ausdruck für Dissonanz, der Gegensatz zu Symphonia (Konsonanz).

2. Im früheren Mittelalter (9. bis 12. Jahrhundert) ist Diaphonia identisch mit Organum (siehe dort), d. h. die primitivste Art der Mehrstimmigkeit, fortgesetzte Parallelbewegung in Quarten oder Quinten, die nur in gewissen Ausnahmefällen durch Terzen, Sekunden und Einklänge unterbrochen wurde. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 203]

Diaphonia (1840)

Diaphonia, griechische Benennung

  1. für ein dissonierendes Intervall;
  2. zu Guidos Zeiten so viel als Diskant;
  3. nach der Erfindung der Harmonie ein zweistimmiges Tonstück.

Das Salve Regina von Hermann dem Gebrechlichen († 1066) hält man für den ältesten zweistimmigen Satz. [Gathy Encyklopädie Musik-Wissenschaft 1840, 95]