Thema (1882)
Thema nennt man einen musikalischen Gedanken, der, wenn auch nicht völlig abgerundet und geschlossen, doch bereits so weit ausgeführt ist, dass er eine charakteristische Physiognomie zeigt. Das Thema unterscheidet sich darin vom Motiv, welches nur ein Keim thematischer Gestaltung ist. Die Themata mancher Fugen sind freilich nicht viel mehr als Motive, während andere wirkliche Themata haben, die sich aus einer Anzahl melodisch-rhythmischer Motive zusammensetzen, zum Beispiel (Bach, Wohltemperiertes Klavier, II, 12):
Das ist nicht mehr ein Motiv (die durch Klammern markierten Bruchstücke von je einem Takt sind Motive), sondern schon ein Stück Kunstwerk, ein Motiv höherer Ordnung, wie es deren nur weniger bedarf, um ein selbstständiges geschlossenes Musikstück hinzustellen.
Gewöhnlich versteht man jedoch unter Thema ein wirklich geschlossenes Sätzchen, wie es z. B. Variationen zu Grunde gelegt zu werden pflegt (Tema con variazioni). In diesem Sinn ist manchmal erst eine ganze Fuge ein Thema, sofern gerade bei dieser Kunstform ein voll befriedigender Abschluss prinzipiell bis zum Ende hinausgeschoben wird. Mindestens wird man eine sogenannte Durchführung (einmaliger Einsatz aller Stimmen) als Thema anzusehen haben, dem die sogenannten Divertimenti (Zwischensätze) gegenübertreten.
Die Fuge hat stets nur ein Thema (die anderen Durchführungen erscheinen als dessen Verarbeitung). Nur diejenigen Doppelfugen, welche beide Subjekte gesondert durchführen und erst am Schluss zusammenbringen, haben zwei Themata und ähneln darin dem Sonatensatz.
Man darf nur ja nicht die Fuge als Typus der Themenbildung aufstellen. Solange die Kunst noch nach geschlossenen Formen rang, war das Fugato ein höchst bemerkenswerter Anlauf dazu. Heute [um 1880], wo die freie Themenbildung Gemeingut ist, liegt es gerade umgekehrt, die Fuge ist ein Vermeiden eigentlicher thematischer Gestaltung, ein ewiges Wachsen und Treiben bis zu Ende. Der Stil Wagners in seiner letzten Periode ("Tristan", "Meistersinger", "Nibelungen") ist darin dem Fugenstil nahe verwandt, dass er die schlichte Kadenzierung und geschlossene Formbildung vermeidet. Über die Ordnung der Themata in Stücken mit mehreren Themata vergleiche Formen. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 915]