Kadenz (1882)
Kadenz (italienisch: Cadenza, französisch: Candence), so viel wie Schlussfall, d. h. eine harmonische Wendung, welche einen Ruhepunkt, Abschluss bildet.
Die sogenannte vollkommene Kadenz ist die Folge: Oberdominante-Tonika (Notenbeispiel a); unvollkommene Kadenz nennt man den Halbschluss (b); doch wird auch die Plagalkadenz (Unterdominante-Tonika, Notenbeispiel c) unvollkommene Kadenz und die große Kadenz (d) auch vollkommene genannt. Trugkadenz heißt die Wendung der Oberdominante nach einem anderen Akkord als der Tonika (e). Aufgehaltene Kadenz (Fermate, f) ist in Konzerten mit Orchester, Sonaten etc. ein Halt inmitten der Kadenz, meist auf dem Quartsextakkord der Tonika (vergleiche Quartsextakkord), dem ein mehr oder minder ausgesponnenes brillantes Passagenwerk folgt, in welchem der Virtuose meist noch die größten Schwierigkeiten zu überwinden hat.
In früherer Zeit (noch bis Ende des vorigen Jahrhunderts [des 18. Jh.]) schoben die Künstler in die aufgehaltene Kadenz freie Improvisationen über Themen des gespielten Werks ein. Beethoven zog es vor, dem Virtuosen auch vorzuschreiben, was er an dieser Stelle spielen solle, schrieb zu seinen früheren Konzerten gesonderte "Kadenzen" (so nannte man nun auch diese Einschiebsel selbst). Seinem Es-Dur-Konzert fügte er dieselben gleich von vornherein als organische Teile ein. Nichtsdestoweniger belieben aber die Pianisten auch heute noch [um 1880], wenigstens in die übrigen Konzerte, statt der Beethovenschen selbstgefertigte (freilich nicht mehr improvisierte) Kadenzen einzuschieben. Moscheles, Reinecke u. a. haben solche Kadenzen herausgegeben. In Schumanns Klavierkonzert und anderen neueren Werken ist die Kadenz integrierender Bestandteil des Werks.
Im polyphonen Stil des 15.-16. Jahrhunderts, überhaupt in der älteren, auf die Kirchentöne aufgebauten Musik, war die Lehre von den Kadenzen eine sehr wichtige Materie, weil die im Übrigen vage und unbestimmte Harmonik in den Schlüssen der ganzen Tonstücke wie der einzelnen Abschnitte und Unterabteilungen notwendig einige wenige Wege einschlagen musste, wenn eine wirkliche Schlusswirkung erzielt werden sollte. Erst jetzt [um 1880], wo wir anfangen, die Prinzipien der harmonischen Satzbildung zu begreifen, verstehen wir die Schwierigkeiten, welche der mehrstimmige Satz der Kirchentöne machen musste. Wir wissen heute, dass eine Schlusswirkung nur durch den Rückgang von wenigen direkt verwandten Klängen zur Tonika möglich ist und dass die Ausprägung einer bestimmten Tonalität neben Verwandten der Obertonseite auch Verwandte der Untertonseite erfordert. Nun fehlen aber z. B. der phrygischen Tonart (e-e' ohne Vorzeichen), wenn man den E-Moll-Akkord als Tonika fasst (was zwar falsch ist, aber lange genug geschah), die Verwandten der Obertonseite gänzlich:
Und umgekehrt fehlen der dorischen Tonart (d-d') die Verwandten der Untertonseite:
Ebenso fehlen der lydischen die Verwandten der Untertonseite und der mixolydischen die der Obertonseite:
Dennoch hat man sich aus mangelndem Verständnis der Kirchentonarten (siehe dort) jahrhundertelang gerade mit der Harmonisierung dieser vier Tonarten herumgeschlagen. Die unerlässliche Folge waren allerlei Konzessionen, d. h. Abweichungen von der leitertreuen Harmonik, besonders in den Schlussfällen, während eine gewisse Unbestimmtheit der Tonalität das notwendige Gepräge der außer den Kadenzen rein in der Tonart gehaltenen Stücke werden musste. Die Konzessionen waren: Einführung des Subsemitoniums (große Septime) für das Dorische (cis) und Mixolydische (fis) und Einführung der kleinen Sexte für das Dorische (b) und der reinen Quarte für das Lydische (b). Dadurch entstanden aber ganz andere Systeme, nämlich:
d. h. in den Kadenzen verwandelten sich die Kirchentöne in unsre modernen Tonarten. Nur mit dem Phrygischen war nichts anzufangen, da die Verwandlung des d in dis ganz außerhalb des Gesichtskreises der Zeit lag und ohne Mitverwandlung des f in fis doch kein befriedigendes Resultat ergab. Daher die große Verlegenheit um den phrygischen Schluss (siehe dort).
Heute [um 1880] hat die Kadenz ihre alte Bedeutung verloren, weil die moderne Musik durchweg kadenziert ist. Jedes Tonstück lässt sich in eine große Anzahl einzelner Kadenzen zerlegen, welche eine Tonika umschreiben und Ganz- oder Halbschlüsse machen. Unter Ganzschluss ist hier ein mit der Tonika abschließendes Sätzchen zu verstehen; unter Halbschluss eins, das mit der Dominante oder einem anderen nahe verwandten Akkord endigt.
Es gibt vier verschiedene Arten von Sätzchen (Thesen) mit tonalem Charakter:
- direkte und geschlossene, die mit der Tonika beginnen und enden;
- mittelbare und geschlossene, die zwar nicht mit der Tonika beginnen, aber mit ihr enden;
- direkte und offene, die mit der Tonika beginnen, aber nicht mit ihr schließen;
- und endlich mittelbare und offene, die weder mit der Tonika beginnen, noch mit ihr schließen:
Es ist erstaunlich, wie viele Themen Haydnscher, Mozartscher und Beethovenscher Sonaten die erste Entwicklung nach folgendem Schema nehmen:
Tonika-Dominante (Vordersatz) : Dominante-Tonika (Nachsatz).Das ist moderne Kadenzierung, die durch Einführung entfernterer Verwandten nur ihr Aussehen verändert, im Kern aber dieselbe bleibt. Modulierende Thesen machen einen Schluss (oder Halbschluss) zu einer anderen Tonika, als die ist, von der sie ausgingen. Vergleiche Modulation und Tonalität. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 431ff]