Musiklexikon: Was bedeutet Enharmonisch?
Siehe auch: Enharmonik.
Enharmonisch, Enharmonische Töne (1879)
Enharmonisch, in der Musik der alten Griechen die Reihenfolge ihrer Töne, in welcher das Tetrachord aus zwei Vierteltönen und einem Zweiton-Intervall zusammengesetzt war. Im heutigen Tonsystem zwei Töne, die, verschiedenen Tonarten angehörend, auf ein und dieselbe Klangstufe fallen, zum Beispiel dis und es, fis und ges etc.
Enharmonische Töne sind [also] solche, die dem Namen nach verschieden, der Tonhöhe nach aber dieselben sind, zum Beispiel cis und des; ais und b; e, disis und fes; fis und ges etc. [Riewe Handwörterbuch 1879, 84]
Enharmonisch (1840)
Enharmonisch nannten die Griechen die Stufenfolge ihrer Töne, in welcher das Tetrachord (die Quarte) aus zwei Vierteltönen und einer großen Terz zusammengesetzt war, zum Beispiel e-eis-f-a [eis und f sind hier nicht tonhöhengleich].
In dem heutigen Tonsystem [nennen wir enharmonisch] die Verwechslung der auf denselben Stufen liegenden und nur durch ein Kreuz oder B verschieden bezeichneten Töne. [Gathy Encyklopädie Musik-Wissenschaft 1840, 113]
Enharmonisch, enharmonische Ausweichung (1807)
Enharmonisch. Dieses Kunstwort ist aus der Musik der alten Griechen in die moderne Tonkunst übertragen worden.
Das Tonsystem der Griechen war aus kleinen Tonreihen verbunden, die man Tetrachorde nannte. Ein solches Tetrachord bestand aus einer Tonleiter von vier Tönen, bei welcher die beiden äußersten Töne jederzeit eine reine Quarte ausmachten. Wenn nun die beiden mittleren Töne so beschaffen waren, dass die vier Stufen des Tetrachordes durch einen großen halben Ton und durch zwei ganze Töne fortschritten, z. B. e f g a, so nannte man diese Stufenfolge diatonisch; schritt man von dem Grundton bis zur reinen Quarte durch zwei halbe Töne und eine kleine Terz fort, z. B. e f fis a, so wurde die Tonfolge chromatisch genannt; geschah aber dieser Fortschritt durch zwei Viertheils-Töne [Vierteltöne] und eine große Terz, z. B. e eis f,* so bekam diese Stufenfolge den Namen der enharmonischen Fortschreitung.
Die Griechen waren gewohnt, ein ganzes Tonsystem von solchen enharmonischen Tetrachorden zusammenzusetzen, welches sie mit dem Namen des enharmonischen Klanggeschlechtes bezeichneten.
Ob wir gleich in der modernen Musik, bei dem Gebrauch unseres temperierten Tonsystems, kein Intervall ausüben, welches kleiner ist als der kleine halbe Ton, so erscheinen dennoch in der sogenannten vollständigen diatonisch-chromatischen Tonleiter solche Tonfolgen, die mit den Viertheils-Tönen [Vierteltönen] des enharmonischen Tetrachordes der Griechen einige Ähnlichkeit haben, und die man daher auch in der modernen Musik enharmonische Tonfolgen nennt, ob sie gleich in einer und ebenderselben Tongröße ausgeübt werden.
Wenn die Klangstufen aller harten [Dur-] oder weichen [Moll-]Tonleitern in dem Raume einer Oktave vorgestellt werden, oder mit anderen Worten, wenn man alle durch ein Kreuz oder b modifizierten Töne, welche durch die Versetzung der harten oder weichen Tonart auf andere Grundtöne notwendig gemacht werden, mit den ursprünglichen Tönen vermischt, und die sämtlich in der Form einer Tonleiter vorstellt, so entwickelt sich die schon vorhin genannte vollständige diatonisch-chromatische Tonleiter, als:
c cis/des d dis/es e eis/f fis/ges
g gis/as a ais/b h his/cIn dieser Tonleiter sind nun eigentlich nur die mit einem Bogen [hier: Schrägstrich] bemerkten Stufen, nämlich cis/des oder dies/es usw., diejenigen, die man enharmonisch nennt. Sie sind ursprünglich um das kleine Verhältnis 125/128, welches die Diesis genannt wird, voneinander verschieden. Weil aber diese kleine Verschiedenheit solcher Stufen vermittelst der Temperatur der Töne in unserem Tonsysteme völlig aufgehoben wird, so, dass die beiden in diesem enharmonischen Verhältnisse stehende Töne in einer und ebenderselben Tongröße oder vermittelst einer gemeinschaftlichen Saite ausgeübt werden, so kann man die enharmonische Stufenfolge auch als den Wechsel zweier zunächst nebeneinander liegender Tonstufen vermittelst einer einzigen Saite beschreiben.
Diese Verwechslung zweier nebeneinander liegenden Stufen auf einer und ebenderselben Saite ist es nun auch, was man eine enharmonische Rückung oder Ausweichung nennt, und die sich auf folgende Verfahrensart gründet: Wenn von zwei solchen Tonstufen, die miteinander im enharmonischen Verhältnisse stehen, die eine als Dissonanz gebraucht, vor ihrer Auflösung aber mit der anderen verwechselt wird, so ändert sich durch diese Verwechslung nicht allein die Beschaffenheit der Dissonanz, sondern sie setzt nunmehr auch eine andere zum Grunde liegende Tonart voraus und erfordert eine ganz andere Auflösung als vor ihrer Verwechslung.
Ein Beispiel wird diese verdeutlichen. Gesetzt man braucht den Septimenakkord f-a-c-es auf der Dominante der Tonart B-Dur, so wird die Septime es in die Terz der Tonika aufgelöst, wie bei a) in [folgendem Beispiel]:
Verwechselt man aber diese Septime es vor ihrer Auflösung mit dem gleichlautenden Tone dis, so wird der Septimenakkord f-a-c-es nicht allein in den übermäßigen Sextenakkord f-a-c-dis verwandelt, sondern dieser letzte Akkord setzt nun eine ganz andere Tonart, nämlich A-Moll, voraus, und die zum Vorschein gekommene übermäßige Sexte muss ihrer Natur nach aufwärts aufgelöst werden, wie bei b), so dass diese enharmonische Verwechslung Gelegenheit gibt, die Modulation aus der Tonart B-Dur entweder in die weiche [Moll] oder harte [Dur] Tonart A oder in die Tonart E zu leiten. Bei c), d) und e) [in obigem Notenbeispiel] findet man noch einige enharmonische Verwechslungen, die vermittelst des verminderten Septimenakkordes gemacht werden.
Der Charakter dieser enharmonischen Ausweichungen ist das Unerwartete und Überraschende, welchen sie bald in einem stärkeren, bald in einem schwächeren Grade äußern, je nachdem dabei die Modulation in eine von der Tonika mehr oder weniger entfernte Tonart übergeht. Und hiraus lassen sich leicht die Fälle bestimmen, wo solche Ausweichungen mit Vorteil gebraucht werden können.
* In diesem Tetrachord muss man sich eigentlich den Ton eis als einen solchen vorstellen, der von dem e ebenso weit wie von dem f entfernt ist.
[Koch Handwörterbuch Musik 1807, 136ff]