Begleitstimmen (1882)
Begleitstimmen heißen in der [um 1880] modernen Musik diejenigen Stimmen, welche nicht selbst als melodieführend hervortreten, sondern einer Melodiestimme (Hauptstimme) untergeordnet sind und deren harmonischen Gehalt erschließen.
Die älteren Kontrapunktiker des 14.-16. Jahrhunderts kannten keine eigentlichen Begleitstimmen. Im reinen Vokalsatz mit strengen oder freien Nachahmungen, welche sie ausschließlich kultivierten, war jede Stimme Melodie (konzertierend) und gewöhnlich die am wenigsten, welche das, was wir heute das Thema nennen, vortrug (den gern in sehr langen Noten gehaltenen Cantus firmus).
Eine primitive Art von Begleitung wird es freilich schon viel früher gegeben haben. Die Gesänge der Troubadoure wurden von den Ministrels auf der Viola oder Vielle begleitet, die Barden sangen zur Chrotta, die Griechen zur Kithara, Lyra oder zum Aulos, die Hebräer zum Psalter. Doch scheint es, dass alle diese Instrumentalbegleitungen die Töne der Singstimme im Einklang oder der Oktave mitspielten und, wo nicht alle, wenigstens die auf rhythmische Hauptakzente fallenden.
Die Begleitung im modernen Sinn kommt dagegen erst ungefähr um 1600 auf, und ihre Wiege ist Italien. Nachdem der Sologesang derart im Chorgesang aufgegangen war, dass auch das einfache Liebeslied und das Duett nur noch in der Gestalt des vier- oder fünfstimmigen Chorlieds (Madrigals) vorkamen, erfolgte endlich die notwendige Reaktion, welche den Einzelgesang wieder in seine natürlichen Rechte einsetzte, ohne darum doch den einmal erkannten Reiz der Harmonie zu opfern. So wurde die Instrumentalbegleitung geschaffen, anfänglich derart, dass von einem mehrstimmigen Chorsatz der oberste Part der Singstimme zugeteilt wurde, während die übrigen durch Instrumente ausgeführt wurden (diese Pseudo-Monodie war schon im 16. Jahrhundert häufig), dann aber so, dass die Komponisten gleich für eine Singstimme mit Instrumentalbegleitung schrieben. Den Übergang vermittelten, wie es scheint, Bearbeitungen von Chorstücken für eine Singstimme mit Laute, welche das Saloninstrument der Zeit war. Die Unmöglichkeit, auf diesem Instrument die Töne auszuhalten, veranlasste zur Einflechtung von Verzierungen, Arpeggien, Läufen etc., und die Gewöhnung an diese führte rückwirkend zu einer von Haus aus verschiedenen Setzweise für das Begleitinstrument. Statt der Laute rückte das Clavicembalo und für den Vortrag in der Kirche die Orgel ein, und so gelangte man ganz allmählich zu jenen mageren Instrumentalbegleitungen, die unter dem Namen des Generalbasses oder Continuo bekannt sind: Eine fortlaufende Bassstimme ist notiert, und übergeschriebene Ziffern deuten an, in welcher Harmonie sich der Akkompagnist zu halten hat. Die spezielle Ausarbeitung blieb seiner Routine überlassen. Noch in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts fingen die Komponisten an, dem Continuo ausgearbeitete Parte einzelner (obligater) Instrumente beizugeben, und so entwickelten sich die Begleitstimmen allmählich wieder zu einer großen Selbständigkeit, ohne doch der Prinzipalstimme, welche unterdessen vom Gesang auch auf einzelne dazu geeignete Instrumente (Violine, Flöte, Oboe) übergegangen war, den Rang streitig zu machen.
Auch im Chorstil hatte sich unterdessen eine ähnliche Wandlung vollzogen, und der Sopran (die Oberstimme) war Träger der Melodie geworden, während die anderen Stimmen eine einfachere Behandlungsweise erfuhren, welche ihre Bezeichnung als Begleitstimmen rechtfertigt. In J. S. Bach feierte der polyphone Stil noch einmal eine herrliche Nachblüte, ja seine höchste Blüte. Doch ist seine Polyphonie so durchdrungen von harmonischer Klarheit, und das Ensemble ordnet sich so meisterlich der einheitlichen Geltendmachung der die Polyphonie krönenden Melodie unter, dass sein Stil als ein für alle Zeit bewunderungswürdiger und mustergültiger erscheinen muss. Tatsächlich streben wir heute [um 1880], nachdem eine Periode stark ausgeprägter Homophonie hinter uns liegt, deren Gepräge das Herrschen der Melodie über eine mehr oder weniger einfache Akkordbegleitung ist (besonders im Klaviersatz), zurück nach einer der Manier J. S. Bachs nahekommenden Behandlung der Begleitstimmen. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 86f]