Solmisation (1882)
Solmisation, eine eigentümliche, durch Jahrhunderte üblich gewesene Methode, die Kenntnis der Intervalle und der Tonleitern zu lehren, welche auf Guido von Arezzo (gest. 1037) zurückgeführt wird. Sicher ist, dass sie um 1100 bereits sehr verbreitet war. Die Solmisation hängt offenbar eng zusammen mit der damals aufkommenden Musica ficta, d. h. dem Gebrauch chromatischer, der Grundskala fremder Töne, und verrät eine Ahnung von dem innersten Wesen der Modulation, d. h. des Übergangs in andere, transponierte Tonarten, entsprechend unserem G-Dur, F-Dur etc., die nichts als Nachbildungen des C-Dur auf anderer Stufe sind.
Die sechs Töne c-d-e-f-g-a (Hexachordum naturale) erhielten nämlich die Namen ut, re, mi, fa, sol, la (nach den Anfangssilben eines Johanneshymnus: Ut queant laxis Resonare fibris Mira gestorum Famuli tuorum Solve polluti Labii reatum Sancte Johannes). Dieselben Silben konnten nun aber auch von f oder von g aus anfangend zur Anwendung kommen, so dass nun f oder g zum Ut wurde, g oder a zum Re etc. Da stellte sich aber heraus, dass, wenn a Mi war, der nächste Schritt (Mi Fa) einen anderen Ton erreichte als das Mi des mit g als Ut beginnenden Hexachords, d. h. die Unterscheidung des b von h (B rotundum oder molle, ♭, und B quadratum oder durum, ♮, vergleiche Versetzungszeichen) wurde damit begreiflich gemacht. Jedes Überschreiten des Tons a nach der Höhe (sei es nach b oder h) bedingte nun aber einen Übergang aus dem Hexachordum naturale entweder in das mit f beginnende (mit B molle, ♭, daher Hexachordum molle) oder das mit g beginnende (mit B durum, ♮, daher Hexachordum durum). Im ersteren Fall erschien der Übergang von g nach a als Sol-Mi, im anderen als Sol-Re. Vom ersteren stammt der Name Solmisation. Jeder derartige Hexachordwechsel hieß Mutation (siehe dort). Zur bequemen Demonstration der Solmisation bediente man sich der sogenannten Guidonischen Hand (siehe dort).
In Deutschland ist die Solmisation nie sehr beliebt gewesen, dagegen verdrängten in Italien und Frankreich die Solmisationsnamen gänzlich die Buchstabennamen der Töne, besonders nachdem durch Einführung einer siebenten Silbe (Si) für den bei der Solmisation namenlosen Ton h die Mutation überflüssig geworden war. Vergleiche Bobisationen. In Italien und Frankreich bediente man sich auch längerer Zeit der zusammengesetzten Namen C solfaut, G solreut etc., weil nämlich c im Hexachordum naturale Ut, im Hexachordum durum Fa und im Hexachordum molle Sol war etc. Der italienische Name Solfa für Tonleiter sowie solfeggiare, solfeggieren = die Tonleiter singen, kommt natürlich auch von der Solmisation her. Für das moderne System der transponierten Tonarten wurde die Solmisation unpraktikabel; das Grablied hat ihr Mattheson gesungen (1717). [Riemann Musik-Lexikon 1882, 861]