Melodie (1865)
Melodie ist einstimmige Tonfolge. Man gebraucht diesen Terminus in zweifachem Sinne:
- in einem ganz allgemeinen, für einstimmige Tonfortschreitung, Tonverbindung im Nacheinander schlechthin, nur zum Unterschiede von Harmonie, dem gleichzeitigen Erklingen mehrerer Töne oder Tonfortschreitungen;
- in einem besonderen, für die, ästhetischen Absichten entsprechend, kunstgemäß durchbildete, ausdrucksvolle Tonfolge.
1. Melodie im weiteren Sinne
1. Melodie im weiteren Sinne, Tonführung, Fortschreitung durch eine Reihe von Intervallen, ist Element der kunstgemäß ausgebildeten Melodie. Ohne Rücksicht auf rhythmische Gliederung und Ausdruck, ist hier nur das, was man auch unter Modulation der Melodie versteht, nämlich die Bewegung, Hebung und Senkung, überhaupt der ganze Wechsel der Tonschritte, zu betrachten, und zwar im wesentlichen hinsichtlich derjenigen Eigenschaft, die man Sangbarkeit nennt. Da alle Melodie ursprünglich Eigentum des Gesanges ist, hat man bei Erklärung derselben in erster Reihe an Gesang zu denken. Die Instrumentalmelodie folgt in vielen Fällen zwar ebenfalls derjenigen Art und Weise in der Tonfortschreitung, deren Gesetze man insbesondere von dem Wesen und der Leistungsfähigkeit der menschlichen Stimme abgezogen hat; ebenso häufig aber mischt ihr die Technik der Instrumente dasjenige Element bei, welches wir, als instrumental, vom Vokalen unterscheiden und durch welches die Melodie, ungeachtet sie bei alledem gesang- und ausdrucksvoll bleiben kann, doch immerhin über die Grenzen der Ausführbarkeit durch die menschliche Stimme hinausgreift. Diese instrumentalen Freiheiten kennen und anwenden zu lernen, wird aber ein Leichtes sein, wenn man die Melodie in ihrem Grundwesen, als Gesang der menschlichen Stimme, begriffen hat.
Jede Melodie besteht aus Aneinanderreihung einzelner Töne; aber auch die allereinfachste und vorläufig ausdrucksloseste Tonfolge wird doch niemals ohne einen gewissen inneren Zusammenhang ihrer Töne sein, schon insofern jeder Ton auf den folgenden und vorangehenden als Intervallverhältnis, als Glied einer stufen- oder sprungweisen Bewegung auf- oder abwärts und ferner auf einen der Tonfortschreitung zu Grunde liegenden Haupt- oder Grundton sich beziehen, ein Verhältnis zu einer Tonart haben muss. Demnach ist zuerst zweierlei zu betrachten:
- das Verhältnis der Töne unter sich als Intervalle im Nacheinander;
- ihr Verhältnis zur Tonart und Harmonie. Aus Erörterung dieser beiden Punkte muss
- die vorhin schon genannte wesentliche Eigenschaft jeder Melodie als drittes Element sich ergeben, die Sangbarkeit nämlich, vorläufig nur als bequeme Ausführbarkeit durch die menschliche Stimme angesehen.
A) Die Intervalle als melodische Bestandteile einer Tonfolge sind zu untersuchen hinsichtlich der mehren oder minderen Leichtigkeit ihrer Intonation mit Rücksicht auf den Chorgesang des strengen Stiles. Und zwar
a) im einzelnen, jedes Intervall für sich. Bequem zu intonieren, ruhig an Ausdruck und daher überall gestattet, sind sämtliche Intervalle der diatonischen Dur- und Mollskala mit Ausschluss der großen Septime und des Tritonus; also die große und kleine Sekunde, Terz und Sexte, die vollkommene Quarte und Quinte auf- und abwärts; ferner bedingungsweise die kleine Septime und verminderten Intervalle (verminderte Quinte und Quarte, Septime und Terz) auf- und abwärts; doch wird man von letzteren im Allgemeinen nicht zu häufigen Gebrauch machen. Verboten sind ihrer Unsangbarkeit und ihres unharmonischen Wesens wegen: die große Septime, leichter zu intonieren, wenn man sie als Unterhalbton der Oktave sich vorstellt, sie von der Oktave aus nimmt; alle über die Oktave hinausgreifenden Intervalle, denn die an sich sehr sangbare große und kleine Sekunde, Terz etc. erfordern, um eine Oktave erhöht und zur großen und kleinen None, Dezime etc. geworden, bereits ziemliche Gewandtheit in der Intonation, wenn sie schnell und ohne Zirkeln mit der Stimme angegeben werden sollen; desgleichen alle übermäßigen Intervalle, die man besser in ihre Umkehrungen (also z. B. die übermäßige Quart aufwärts in die verminderte Quint abwärts) verwandelt, wodurch freilich ihr Charakter sich ändert, wenngleich sie hinsichtlich ihrer harmonischen Bedeutung dieselben bleiben. Übrigens verbietet der strenge Satz diese Intervalle weniger um ihrer schwierigen Intonation willen - denn diese lässt sich erlernen, und selbst von dem auch nur einigermaßen brauchbaren Chorsänger nimmt man an, dass er sie wenigstens einzuüben im Stande ist - als ganz besonders der Ruhe und Einfachheit des Gesanges wegen, welche durch alle diese weniger natürlichen Fortschreitungen beeinträchtigt wird. Übrigens erleidet dieses Verbot Ausnahmen genug. Man wird auch im Chorgesange die übermäßigen Intervalle keineswegs immer ängstlich vermeiden, sondern da, wo sie der Absicht auf den Ausdruck entsprechen und sonst nicht gesucht erscheinen, gebrauchen, wenn auch mit Maß und ohne Kapriziosität. Die sehr weit gespannten, über die Oktav hinausgehenden Sprünge werden im Chorgesang, außer etwa als neue Einsätze nach einer Pause oder sonst um besonderer Wirkungen willen, ohnedies zu den Seltenheiten gehören, da schon die Chorstimmen überhaupt in engeren Grenzen sich bewegen. Der Sologesang hingegen bedient sich ihrer natürlich ohne weiteres. In der Instrumentalmusik, die überhaupt mit keinerlei Schwierigkeit der Intonation zu kämpfen hat, sind alle Intervalle ohne Ausnahme gestattet, sofern sie dem Charakter der Melodie entsprechen.b) Intervallfolge. An sich leicht zu intonierende und fassliche Intervalle können in mehrfacher Aufeinanderfolge und Verbindung mit anderen Intervallen schwierig und unfasslich werden. Der Ganze Ton an sich ist der leichteste und biegsamste Tonschritt, eine Folge von ganzen Tönen etwa im Umfange einer Oktave hingegen wird schwierig, indem ihr ein unausgesetzter Tonartenwechsel zu Grunde liegt, jeder folgende Schritt eine neue Modulation macht, Beispiel 1a. Folgen gebrochener Oktaven sind ganz ungesangmäßig und höchstens in der Instrumentaltechnik brauchbar. Ebenfalls an sich unsangbar ist eine Folge zweier übereinanderliegenden großen Terzen (Beispiel 1b), als übermäßige Quint und querständige Fortschreitung (1c); doch kann eine entsprechende Harmonisierung die Schwierigkeit aufheben (1d). Ferner eine Kette stufenweise auf- oder absteigender großen Terzen (1e); die Tonart wechselt beständig und die Endpunkte je zweier Terzen machen immer einen Tritonus. Dauern sie nicht zu lange an, so sind sie harmonisch gut zu vermitteln (1f), doch behält die Melodie immer etwas Gezwängtes und Gespanntes. Zwei Quartenschritte in gleicher Richtung (1g) sind steif, daher verboten, wenngleich Beispiele, in denen sie sehr wirksam sind, gar nicht selten sich finden lassen. Wenn sie vermieden werden sollen, verwandelt man den einen auf- oder absteigenden Quartenschritt in einen ab- oder aufsteigenden Quintenschritt (1h). Ähnliches, wenn auch in geringerem Maße, gilt von Quinten (Beispiele 1i, 1k). Eine große Terz und eine große Sexte (1l) ergeben die übermäßige, eine kleine Terz und kleine Sext (1m) die verminderte Oktave, die übrigens immer, auch wenn sie durch den Akkordwechsel gedeckt werden (1n, 1o), wenigstens in schnellerer Bewegung, als Querstände fühlbar bleiben.
Alle großen und vollkommenen diatonischen Intervalle mit Ausnahme der großen Septime, also die große Sekunde, Terz, Sexte, die vollkommene Quinte und Quarte, tragen den Charakter des Einfachen, Ruhigen und fest Bestimmten, sind unter allen Umständen der Ausdruck ruhiger Kraft und Natürlichkeit; die kleinen sind von weniger einfacher und entschiedener Beschaffenheit, für den Anfänger übrigens auch weniger leicht zu intonieren. Die große Septime und alle übermäßigen Intervalle haben, jene auf Grund ihrer Hinneigung zur Oktave, diese als Erweiterungen der natürlichen Tonstufen, den Charakter großer Gespanntheit und Erregtheit, können daher auch als Ausdruck erregter Empfindungen und Leidenschaften dienen. Ihnen gegenüber stehen die verminderten Intervalle, als Verengerungen natürlicher Tonstufen, weich, unruhig, unvollkommen und, gleich den übermäßigen, der Beruhigung durch Auflösung in einfachere Tonverhältnisse bedürftig. Im übrigen sind unter den einzelnen Intervallen wiederum diese mehr, jene weniger melodisch; je einfacher das Schwingungsverhältnis, desto farbloser (gleichsam) die Intervalle hinsichtlich des Ausdruckes; je zusammengesetzter jenes, desto stärker gefärbt und auf bestimmte Charakteristik hingehend das Wesen der letzteren auch in der Melodie. Die Oktave z. B., mit dem Einklang das einfachste Tonverhältnis, nur Versetzung desselben Tones auf doppelte Tonhöhe (Erzeugung durch doppelte Schwingungszahl), entbehrt jeder melodischen Mannigfaltigkeit. Die diatonische Quinte und Quarte stehen diesen einfachen Verhältnissen noch sehr nahe, sind weniger melodisch mannigfaltig und ausdrucksvoll als die zusammengesetzteren und daher mehr gefärbten Terzen und Sexten. Die Sekunde, auf unbedingtem Akkordwechsel beruhend und im Zusammenklange Dissonanz, ist, wenn auch nicht hinsichtlich des Ausdruckes so doch der Fortschreitung, ein entschieden bewegendes Element der Melodie. Die übermäßigen Intervalle sind noch schwerer fasslich als die verminderten und auch weniger melodisch. Über chromatische Tonfolgen siehe Klanggeschlecht
B) Das Verhältnis der Tonfortschreitung zur Harmonie und Tonart. Es ist im Artikel Hauptnoten erklärt, dass eine Melodie entweder aus Hauptnoten durchweg oder aus Haupt- und Nebennoten bestehen kann, Hauptnoten aber solche sind, die im Anschlag der Akkorde, Nebennoten hingegen solche, die im Nachschlag stehen. Ferner ist im Artikel Harmonie auseinandergesetzt, dass Melodie ohne Harmonie ebenso wenig denkbar ist wie diese ohne jene, dass beide nur als verschiedene Gestaltungen eines und desselben Inbegriffes von Tönen, den wir Tonart nennen, anzusehen sind. Die Tonführung oder Modulation einer Melodie bewegt sich entweder innerhalb der Tonart, enthält nur diatonische (keine leiterfremden) Töne, oder sie enthält auch leiterfremde (anderen Tonarten angehörende). Über den ersten Fall ist hier nichts weiter zu bemerken, und dass eine rein diatonische Melodie häufig sehr verschiedene und auch ausweichende Bässe gestattet, findet man unter Harmonie näher erörtert. Leiterfremde Töne einer Melodie dürfen
a) nicht zu weit entlegenen Tonarten entnommen werden, wie in Beispiel 2 der Ton as einer so entfernten Tonart angehört, dass er zur Haupttonart D-Dur in keine Beziehung gebracht werden kann, ungeachtet die Tonschritte im einzelnen an sich sangbar sind.Die leiterfremden Töne einer Melodie müssen stets in einem fasslichen Verhältnisse zur Tonart stehen. Ferner können sie
b) mehrfach verschiedene Geltung in der Melodie haben. Sie sind entweder
α) melodische Hauptnoten, d. h. im Anschlag der Akkorde stehende Noten, die übrigens, wie als bekannt vorauszusetzen, ihre Geltung als solche behalten, auch wenn ihr Eintritt durch Vorhalte oder Wechselnoten verzögert wird. Im Falle die leiterfremden Töne also melodische Hauptnoten sind, haben sie harmonische Bedeutung, denn es liegt ihnen alsdann eine Modulation zu Grunde. Folgende Melodie, Beispiel 3, hebt in C-Moll an, weicht im Takt 2 durch fis nach G-Moll aus, enthält im Takt 3 den Dominantseptimenakkord von C, löst ihn jedoch nicht auf, sondern schreitet im Takt 4 nach F-Moll fort. Takte 6 und 7 enthalten G-Moll, Takt 8 moduliert nach D-Moll. Selbstverständlich findet nicht in jeder Melodieperiode eine so reiche Modulation statt, dieses Beispiel ist auch nur gewählt, um die Geltung leiterfremder Noten als melodischer Hauptnoten zu zeigen.Oder sie sind
β) nur zufällige chromatische Abänderungen diatonischer Töne, als alterierte, chromatische Durchgangs- und Wechselnoten, wie die in Beispiel 4 mit + bezeichneten Töne. Solche leiterfremde Intervalle haben keine Abänderung der Tonart zur Folge und keinen Einfluss auf die Harmonie.Im übrigen sind die Grundelemente richtiger und natürlicher Tonfortschreitung im Artikel Kontrapunkt erklärt. Wenn auch die freie Melodiebildung die Gesetze des Kontrapunktes in vielen Fällen seitab liegen lässt, so bleiben sie nichtsdestoweniger doch grundleglich und enthalten nichts, was dem Wesen des Gesanges zuwider wäre, daher nicht auch für die vollkommen entwickelte Melodie grundlegliche Geltung hätte.
Solche durch sangbare Intervalle fortschreitende und hinsichtlich der Tonart geordnete Tonfolge, die wir Melodie im allgemeinen nennen, ist schließlich jede Stimme eines für mehrere Stimmen, auf deren melodische Führung die entsprechende Sorgfalt verwendet ist, gesetzten Tonstückes. Jeder gut gearbeitete vierstimmige Choral besteht aus vier solchen Melodien, die zusammen die Harmonie ausmachen. Diese Melodie im Allgemeinen ist schon vorhin als Element der Melodie im höheren und speziellen Sinne bezeichnet worden. Über letztere aber sind noch einige Andeutungen zu geben.
2. Melodie im speziellen Sinne
2. Melodie im speziellen Sinne ist kunstgemäß ausgebildeter Gesang: hinsichtlich der Tonschritte, den Gesetzen melodischer Modulation folgend, in bestimmten Beziehungen zu einer Tonart stehend, rhythmisch gegliedert und geordnet; hinsichtlich der ästhetischen Absicht, ausdrucksvoller Erguss des durch eine gewisse Empfindung oder Leidenschaft erregten Gefühles, in Tönen.
A) Das die Sangbarkeit der Tonschritte betreffende Allgemeine ist unter 1. [siehe oben] gegeben. Näheres darüber, wie die Tonfolge der Melodie beschaffen sein soll, lässt sich nicht sagen: Die Mannigfaltigkeit derselben ist so reich, so vielfach durch den auszudrückenden Inhalt und durch das Genie des Tonsetzers bedingt, und entzieht sich so vollständig jeder gemeingültigen Regel, dass wohl an Beispielen im Einzelnen die mehre oder mindere Schönheit und Bedeutsamkeit des Tonganges sich empfinden und zeigen, eine allgemeine Norm dafür aber ebenso wenig als für das Schöne überhaupt sich aufstellen lässt. Sie ist Sache des Genies und, abgesehen vom Formalen, weder zu lehren noch zu beschreiben. Alles, worauf die Betrachtung hinweisen kann, sind gewisse Analogien zwischen den Bewegungen der Töne und denen des Gefühles, welche durch sie ausgedrückt werden sollen. Dass der reine Tongang an sich, von Rhythmik und Harmonie ganz abgesehen, schon bedeutend charakteristisch sein kann, haben die obigen Andeutungen über die verschiedenen Arten der Intervalle gezeigt. Dass die Spannung übermäßiger, die Weichheit verminderter Schritte, einen von der Natürlichkeit und Einfachheit diatonischer Tonfolgen, und dass ebenso eine unruhige und wechselvolle sprungweise Bewegung einen von der ruhig schrittweisen erheblich abweichenden Ausdruck zur Folge haben muss, erfährt man aus Untersuchung jeder Melodie.
B) In Betreff der Beziehungen einer Melodie zur Tonart bleibt dem oben Gesagten noch hinzuzufügen, dass letztere gleich anfangs durch die wesentlichen Töne der Tonart festgestellt werden muss, damit sie (namentlich wenn die Melodie unbegleitet ist) auch sicher und deutlich aufgefasst werde. Hat die Haupttonart dem Gehör genugsam sich eingeprägt, so erfolgt Ausweichung in Nebentonarten, damit die einzelnen Töne, woraus die Melodie besteht, eine Mannigfaltigkeit an Beziehungen aufeinander erhalten. Wollte die Melodie stets in einer und derselben Tonart fortmodulieren, so würden die Beziehungen ihrer Töne immer dieselben bleiben. Dadurch würde nicht allein die Aufmerksamkeit sehr bald ermüden, sondern mit dem Tonartenwechsel auch ein wesentliches Hilfsmittel zur Darstellung der verschiedenen Modifikationen der auszudrückenden Empfindung ausbleiben. Die Ausweichung vom Haupttone in andere Tonarten darf aber nicht soweit gehen, dass jener gänzlich aus der Vorstellung verdrängt, somit der Tonentwickelung die einheitliche Unterlage zerstört wird; imgleichen muss die Tonbewegung endlich wieder in die Haupttonart zurückkehren, in welcher der Schluss, als Zusammenfassung der gesamten Entwickelung zur Einheit, erfolgt. Dass die Melodie eine, je nach Beschaffenheit ihres Ausdruckes, einfachere oder mannigfaltiger wechselnde, stets aber geordnete Harmonie zulassen muss und auch zulassen wird, versteht sich von selbst, da sie auf Grund der Tonverwandtschaft geordnete Tonfolge und mit der Harmonie eines Ursprungs ist.
Im Ferneren sieht der Tonsetzer durch ein unbestimmtes Gefühl sich veranlasst, die eine oder die andere Transposition der Dur- oder der Molltonart, als für den Ausdruck seines Gedankens geeigneter, zu wählen, eine Melodie in C-Dur und nicht in Es-Dur oder Fis-Dur, eine andere in F-Moll und nicht in Cis-Moll oder D-Moll zu setzen. Dazu veranlasst werden kann er nur durch irgendeine Vorstellung von gewissen charakteristischen Unterschieden und Merkmalen der verschiedenen Transpositionen - und dass solche Unterschiede in ungleichschwebenden Temperaturen auch vorhanden sind, ist selbstverständlich, wenngleich sie wesentlich nur auf mehrer oder minderer Reinheit der einen oder anderen Tonart sich gründen. In unserer gleichschwebenden Temperatur hingegen kann faktisch von einem anderen als örtlichen (Höhe- und Tiefe-) Unterschiede keine Rede sein; denn alle Halbtöne der Oktav sind einander vollkommen gleich, worüber man den Artikel Temperatur vergleichen möge. Nichtsdestoweniger bleibt gewiss, dass ein jeder Tonsetzer der einen oder anderen Tonart bei Darstellung seiner Gedanken den Vorzug gibt. Im Artikel Tonart ist hierauf näher eingegangen.
C) Die Melodie muss in anschaulicher Form erscheinen, d. h. metrisch und rhythmisch geordnet sein. Unter metrischer Ordnung ist die Einkleidung in eine Taktart, die Gliederung der Tonfolge durch den Akzent, die Bestimmung der wesentlichen oder Hauptnoten als metrisch betonte, die der Nebennoten als metrisch tonlose zu verstehen. Der Rhythmus (s. dort) ist Gruppierung der verschiedenen Taktglieder und ihrer Gliedteilungen, als Längen und Kürzen verschiedener Art, zu mannigfaltigen Zeitfiguren; ferner Gruppierung und Zusammenfassung dieser Zeitfiguren in die Formen des Satzes, Abschnittes und der Periode. Jede Melodie muss aus Teilen bestehen, die durch mehr oder weniger fühlbare melodische, rhythmische oder harmonische Ruhepunkte der Bewegung voneinander gesondert sind, ohne welche sie ineinanderschwimmen und gänzlich der Übersichtlichkeit ermangeln würde. Die Verleihung solcher anschaulichen Form ist im wesentlichen Sache der Rhythmik, das Nähere darüber unter Periodenbau zu erfahren.
Diese verschiedenen Elemente vereinigen sich, um die Melodie nicht nur zu einem kunstmäßig sich entwickelnden und in übersichtlicher Form anschaulichen, sondern auch zu einem ausdrucksvollen Gesange zu gestalten. Wie man die Tonführung (auch die rein diatonische, ohne Rücksicht auf etwaige Ausweichung) bezeichnend Modulation zu nennen pflegt, so bedient man sich für die gesamte Bewegung der Melodie hinsichtlich der Hebung und Senkung der Tonschritte, der Gruppierung ihrer Zeitfiguren und des dadurch bewirkten Ausdruckes des (von der durch mancherlei Tonfall belebten und durch den Stimmlaut und die Akzentuation ausdrucksvoll gewordenen Rede hergenommenen) Wortes Deklamation (siehe dort). Die Melodie soll richtig und präzise deklamiert sein, heißt, sie soll hinsichtlich alles zum Ausdrucke gehörenden, der ihr zu Grunde liegenden Empfindung völlig entsprechen, als deutliches und eindringliches Bild derselben, den Sänger so ergreifen und in ihre Stimmung hineinziehen, dass er sie gleichsam wie aus sich heraus wiedergibt. Äußert sie diese bestimmte und eindringliche Wirkung auf den Sänger, so hilft ihm der ihr innewohnende Geist schließlich auch über manche Schwierigkeit der Intonation einzelner vorhin als unsangbar bezeichneter Intervalle hinweg (vergleiche Cantabile), und von diesem Gesichtspunkte aus ist dann die maß- und verständnisvolle Anwendung derselben auch leicht zu rechtfertigen. Wir müssten denn eine große Anzahl schöner und bedeutender Melodien, in denen übermäßige und andere schwer zu intonierende Intervalle keineswegs zu den Seltenheiten gehören, während ihnen doch reichste Gesangfülle und ein dringlichste Charakteristik im höchsten Maße eigen ist, für fehlerhaft erklären wollen.
Lehren lässt sich, wie gesagt, die Erfindung schöner Melodien nicht, sie ist Sache des Genies, und da die Genies seltener sind als die Regeln, ist die vollkommene Beherrschung der Melodie auch nicht jedermanns Sache.
Schließlich bleibt nur noch, auf den gewöhnlichen Gebrauch des Wortes Melodie im Gegensatz zur Begleitung und auf den daraus entspringenden und schon an anderen Orten berührten Unterschied zwischen Polyphonie und Homophonie hinzuweisen. In polyphonen Sätzen ist jede Stimme gleich der anderen vollkommen ausgebildeter Gesang, Melodie im engeren Wortsinne; in homophonen hingegen ist im wesentlichen nur eine Hauptstimme vorhanden, die wir die Melodie insbesondere nennen und dadurch von den übrigen, als den durch ihre Bewegungen bedingten und als nur begleitend ihr untergeordneten, unterscheiden. Hierüber sind die Artikel Homophonie, Polyphonie, Hauptstimme, Begleitung etc. zu vergleichen. Erörterung der Frage, ob der Melodie oder Harmonie höhere Geltung als musikalischer Hauptfaktor zuzuerkennen und welche von beiden als eigentlich ursprüngliches und grundlegliches Element der Tonkunst anzusehen sei, hat, soweit sie nicht müßig erscheint, im Artikel Harmonie stattgefunden. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 537ff]