Musiklexikon: Was bedeutet Auflösung?

Auflösung (1929)

Auflösung nennt man die durch die spannende Wirkung einer Dissonanzbildung bedingte Fortschreitung einer oder mehrerer Stimmen. Je nach der Natur der Dissonanzbildung wird entweder eine Auflösung bei bleibender Harmonie oder aber die Fortschreitung zu einer neuen Harmonie erwartet, ersteres bei sogenannten Vorhalten, wo statt eines Akkordtones ein demselben benachbarter Ton eingestellt ist (kleine oder große Ober- oder Untersekunde, meist aus der vorausgehenden Harmonie herüber gehalten), dessen nachträglicher Wegtritt daher als Auflösung der Dissonanz erwartet wird, z. B.:

Auflösung (Einstein 1929)

Auflösung der Dissonanz

Auflösung (Einstein 1929)

Dagegen drängen chromatisch veränderte Akkordtöne (alterierte Töne) zur Fortschreitung in eine neue Harmonie, der als Prim, Terz oder Quinte der Ton angehört, zu welchem der alterierte Ton leitet:

Auflösung (Einstein 1929)

Auflösung alterierter Akkordtöne

Auflösung (Einstein 1929)

Auf der Erfüllung solcher Erwartungen beruht die Selbstverständlichkeit musikalischer Entwicklungen, auf ihrer Nichterfüllung das Überraschende von Anderswendungen.

In der neueren Musik werden vielfach Zusammenklänge, die nach der Dreiklangslehre als dissonant gelten, wie konsonante Akkorde behandelt. Hieraus ergeben sich neue Gesetzmäßigkeiten, die bis zur völligen Aufhebung des Auflösungsbedürfnisses führen können. Anstelle der Nichtauflösung wird dann gerade die Auflösung mit ihrer Einführung von Konsonanzen zum besonderen Ausdrucksmittel und unterliegt Beschränkungen in ihrer Anwendung, ähnlich wie im reinen Dreiklangsstil die Nichtauflösung der Dissonanz. [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 77]

Auflösung (1882)

Auflösung ist der technische Ausdruck für die Fortschreitung dissonanter Akkorde (vergleiche Dissonanz). Es sind zu unterscheiden:

  1. die Vorhaltslösung, wenn der dissonanzbildende Ton oder die dissonanzbildenden Töne, d. h. diejenigen, welche dem Klang nicht angehören, in dessen Sinn der Akkord aufgefasst wird (siehe Klang), wegtreten und sich nach Tönen fortbewegen, welche dem Klang angehören:
    Auflösung (Riemann 1882)

    Vorhaltsauflösung

    Auflösung (Riemann 1882)

  2. Eine Vorhaltslösung ist es auch, wenn bei Akkorden, die im Sinn zweier zugleich vertretener Klänge gefasst werden können, ein oder mehrere Töne sich so fortbewegen, dass nur Bestandteile eines der dissonanzbildenden Klänge übrig bleiben, auch wenn das derjenige von beiden Klängen sein sollte, in dessen Sinn der Akkord nicht gefasst worden war, zum Beispiel:
    Auflösung (Riemann 1882)

    Vorhatsauflösung

    Auflösung (Riemann 1882)

    Den Septimenakkord c-e-g-h wird man in C-Dur gewiss im Sinn eines durch den dissonanten Ton h gestörten C-Dur-Akkords fassen, dennoch ist aber die Auflösung in den E-Moll-Akkord eine Vorhaltslösung, da c-e-g-h in der Tat ein Zusammenklang des C-Dur-Akkords und E-Moll-Akkords ist.

  3. Eine fortschreitende Auflösung hat statt, wenn keiner der dissonanzbildenden Klänge bleibt, sondern nach einem dritten fortgegangen wird resp. für Dissonanzen, die im Sinne nur eines Klanges verstanden werden, wenn die Stimmfortschreitung, welche beim Bleiben desselben Klanges die Dissonanz beseitigt hätte, zwar geschieht, zugleich aber noch mehrere Stimmen fortschreiten, so dass der neue Akkord im Sinn eines anderen Klanges verstanden werden muss:
    Auflösung (Riemann 1882)

    fortschreitende Auflösung

    Auflösung (Riemann 1882)

    Bei I löst sich die Dissonanz des C-Dur- und E-Moll-Akkords in den F-Dur-Akkord, bei II bewegt sich die vorgehaltene Quarte f zwar nach der Terz e, gleichzeitig schreiten aber die anderen Stimmen zum A-Dur-Septimakkord fort.

Man unterscheiden auch eine natürliche und eine Trugfortschreitung und versteht dann unter ersterer die erwartete, unter letzterer aber eine unerwartete Auflösung der Dissonanz. Natürliche Auflösungen sind zum Beispiel die Vorhaltslösungen, wenn sie in die Konsonanz des Klanges geschehen, in dessen Sinn der dissonante Akkord gefasst wurde, z. B. die obige bei I. Trugfortschreitungen sind besonders diejenigen, welche statt eines erwarteten abschließenden konsonanten Akkords entweder einen im Sinn des erwarteten aufzufassenden dissonanten oder aber einen anderen als den erwarteten konsonanten oder dissonanten Akkord bringen.

Eine verzögerte Auflösung ist es, wenn der Stimmschritt, welcher die natürliche Auflösung der Dissonanz herbeiführen würde, erst nach Durchgang der anderen Stimmen durch einen anderen Akkord geschieht. Vergleiche auch das unter "Tonalität" und "Modulation" über die Bedeutung der Folge konsonanter Akkorde Gesagte. Dasselbe gibt besonders über viele natürliche Lösungen der Dissonanzen Aufschluss, da meist der Unterdominante die große Sexte und der Oberdominante die kleine Septime beigegeben werden kann ohne wesentliche Änderung des Effekts. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 51f]

Auflösung (1882)

Auflösung. Dies Wort wird in verschiedener Bedeutung in der Musikwissenschaft angewendet. Hauptsächlich bezeichnet man damit den gebotenen Schritt von einem dissonierenden Intervall zu einem konsonierenden: [zum Beispiel] die Septime des Dominantakkordes wird in die Terz des tonischen Dreiklangs aufgelöst.

Weiterhin versteht man [um 1880] unter Auflösung eines Akkordes eine Darstellung nicht in seiner Gesamtheit, sondern in seinen einzelnen Tönen.

Die Auflösung eines Kanons ist seine Notierung, genau in der Weise wie er mehrstimmig ausgesetzt klingt, so dass jede Stimme genau aufgezeichnet ist, während er sonst gewöhnlich nur in einer Stimme mit genau bezeichnetem Eintritt der anderen niedergeschrieben wird. [Reissmann Handlexikon 1882, 27]

Auflösung (1879)

Auflösung oder Resolution (vom Lateinischen) bezeichnet im Allgemeinen die durch die Natur eines musikalischen Intervalls geforderte Fortbewegung einer Melodie, im engeren Sinne die Fortschreitung einer Dissonanz in ein konsonierendes Intervall. Dies Fortschreitung geschieht in stufenweiser Bewegung je nach Art der dissonierenden Intervalle eine Stufe abwärts oder aufwärts (siehe Akkord).

In älteren Harmonielehren wird die Auflösung eingeteilt in eine reguläre, welche da stattfindet, wo die Dissonanzen im schlechten [unbetonten] Taktteil vorbereitet und im schlechten wieder aufgelöst werden, und in eine irreguläre Auflösung, bei welcher die Dissonanzen nur durchgangsweise gebraucht werden, oder wo die Auflösung auf dem guten [betonten] Taktteil geschieht. Gegenwärtig [um 1880], wo man es mit der Vorbereitung der Dissonanzen nicht mehr so streng nimmt, ist dieser Unterschied von keinem Belang mehr. Übergehungen der eigentlichen Auflösung, also Fortschreitungen von Dissonanzen zu Dissonanzen heißen Ellipsen (siehe dort).

Unter Auflösung versteht man auch: eine durch ein erhöhte oder durch ein erniedrigte Note vermittelst des Widerrufungszeichens ♮ [Auflösungszeichens] wieder in den ursprünglichen Ton zurückzuversetzen; daher das widerrufende B-Quadrat ♮ auch Auflösungs- oder Aufhebungszeichen genannt wird. [Riewe Handwörterbuch 1879, 25]

Auflösung (1865)

Auflösung

  1. der Dissonanzen, siehe Fortschreitung der Intervalle; über die Scheidung der Begriffe Auflösung und Fortschreitung, den Anfang des Artikels; […] ferner die unter den Namen der verschiedenen Intervalle gegebenen Artikel [z. B. Sekunde, None];
  2. eines geschlossenen (Rätsel-)Kanons. Beim geschlossen (in einer Stimmzeile) notierten Kanon pflegte man häufig Ort und Intervall der folgenden Stimmeneintritte nicht anzuzeigen, sondern das Aufsuchen derselben, welches man eben die Auflösung nennt, dem Ausführenden zu überlassen – siehe Kanon. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 70]

Auflösung, Resolutio (1840)

Auflösung, Resolutio. Die Herstellung der völligen Harmonie durch die stufenweise Fortschreitung der strebenden Töne oder [= bzw.] Dissonanzen in konsonierende Intervalle.

Die Dissonanzen treten bei ihrer Auflösung gewöhnlich eine Stufe abwärts; eine Stufe aufwärts nur die übermäßigen Intervalle. Der Schritt des Grundbasses bestimmt das Intervall der Auflösung. Bei den regulär gebrauchten Dissonanzen (den in dem vorhergehenden schlechten Taktteil vorbereiteten, d. h. als Konsonanz erschienenen) fällt die Auflösung immer wieder auf den schlechten Taktteil. So findet in [nachfolgendem] Beispiel der Ton c, der durch den Basston d zu einer Dissonanz (hier Septime) wird, seine Auflösung eine Stufe abwärts in den Ton h, der bei a) gegen den Bass eine Terz, bei b) eine Quinte und bei c) eine Sexte bildet.

Auflösung (Gathy 1840)

Auflösung der Dissonanz, Beispiele

Die irregulär, d. h. im Durchgange und ohne Vorbereitung gebrauchten Dissonanzen werden auf der guten Taktzeit aufgelöst, wie bei d). Manche werden gar nicht aufgelöst, sondern treten gleich in eine andere Harmonie ein, wie bei e), wo die Auflösung f) umgangen wird; siehe Ellipsis.

Auch wird der Ausdruck Auflösung bei dem sogenannten geschlossenen Kanon als Kunstwort gebraucht - siehe Kanon. [Gathy Encyklopädie Musik-Wissenschaft 1840, 22]