Kirchentöne (1882)
Kirchentöne heißen die verschiedenen möglichen Oktavteilungen der Grundskala (siehe dort), welche in der Zeit der einstimmigen (homophonen) Musik sowie auch noch in der Blütezeit des Kontrapunkts (der polyphonischen Musik) als besondere Tonarten oder Tongeschlechter, wie jetzt unser Dur und Moll, angesehen wurden. Die Entwicklung der harmonischen Musik, die Erkenntnis der Bedeutung der konsonanten Akkorde (Dreiklänge) und ihre Stellung in der Tonart (Tonika, Dominante, Medianten) mussten die Kirchentöne beseitigen und zur ausschließlichen Aufstellung der beiden Tongeschlechter Dur und Moll führen.
Den Namen Kirchentöne erhielten die Oktavengattungen darum, weil die Gesänge des Gregorianischen Antiphonars (siehe dort) derart aufgezeichnet waren, dass sie immer den Umfang (ambitus) einer derselben innehielten, ohne andere chromatische Töne zu benutzen als den Halbton B neben dem Ganzton H über dem A der Mittellage (klein a). Es wurde dadurch eine strenge Diatonik sozusagen kirchlich sanktioniert, nachdem das griechische Musiksystem, aus welchem übrigens das der Kirchentöne abgeleitet ist, in Chromatik und Enharmonik entartet war.
Die ältesten Schriftsteller, die von den Kirchentönen reden (Flaccus Alkuin im 8. Jahrhundert, Aurelianus Reomensis im 9. Jahrhundert), wissen von ihrem Zusammenhang mit der griechischen Musik nichts und nummerieren sie einfach als 1. bis 8. Ton oder als 1. bis 4. authentischen und 1. bis 4. plagalen (siehe unten). Erst bei Hugbald (gest. 932) tauchen für die Kirchentöne dieselben Namen auf, welche die Oktavengattungen bei den Griechen hatten, aber in verkehrter Anwendung, wie sie sich bis auf den heutigen Tag gehalten haben. Über die Bedeutung der Namen bei den Griechen vergleiche Griechische Musik (Oktavengattungen).
Die Übertragung moderner harmonischer Begriffe auf die Kirchentöne, sofern man versuchte, den Anfangston der Tonleiter auch harmonisch als Hauptton (Tonika) zu behandeln, führte zu jenen sonderbaren Schlussfällen, die als Eigentümlichkeiten der Kirchentöne bekannt sind (vergleiche Kadenz). Das Beste über die harmonische Behandlung der Kirchentöne im 16. bis 17. Jahrhunderts hat K. v. Winterfeld im 2. Band seines Werks über Johannes Gabrieli geschrieben.
Die Kirchentöne waren:
- Der erste Kirchenton oder erste authentische (Authentus protus)
D E F G a ♮ c d
(unser d e f g a h c' d')seit Hugbald der dorische Ton genannt (Dorius).
- Der zweite oder plagale erste (Plagius proti, plagis proti, plaga proti, lateralis, subjugalis proti)
A B C D E F G a
(= A H c d e f g a)der hypodorische (Hypodorius).
- Der dritte oder zweite authentische (Authentus deuterus)
E F G a ♮ c d e
(= e f g a h c' d' e')der phrygische (Phrygius).
- Der vierte oder plagale zweite (Plagius etc. deuteri)
B C D E F G a ♮
(= H c d e f g a h)der hypophrygische (Hypophrygius).
- Der fünfte oder dritte authentische (Authentus tritus)
F G a ♮ c d e f
(= f g a h c' d' e' f')der lydische (Lydius).
- Der sechste oder plagale dritte (Plagius triti)
C D E F G a ♮ c
(= c d e f g a h c')der hypolydische (Hypolydius).
- Der siebte oder vierte authentische (Authentus tetartus)
G a ♮ c d e f g
(= g a h c' d' e' f' g')der mixolydische (Mixolydius).
- Der achte oder plagale vierte (Plagius tetarti)
D E F G a ♮ c d
(= d e f g a h c' d')der hypomixolydische (Hypomixolydius, seit dem 11. Jahrhundert).
Die plagalen Töne (2., 4., 6., 8.) galten als bloße Verschiebungen der authentischen, sie hatten den Hauptton (Schlusston, Finalis) nicht als Grenzton der Oktave, sondern in der Mitte, als vierten Ton. Finalis des 1. und 2. Tons ist also D, des 3. und 4. ist E, des 5. und 6. ist F, des 7. und 8. ist G. Der 8. und 1. sind deshalb keineswegs identisch.
Keiner der vier authentischen Töne hat den Schlusston C oder A. Es fehlen daher die beiden Tongeschlechter, welche heute die einzigen sind, (C-)Dur und (A-)Moll. Das 16. Jahrhundert, welches zuerst die Prinzipien der Harmonie begriff (vergleiche Zarlino) und den Weg zu den modernen Tonarten fand, stellte deshalb zwei neue authentische Töne nebst ihren plagalen auf, den ionischen
c d e f g a h c'und äolischen
a h c' d' e' f' g' a'resp. hypoionischen
G A H c d e f gund hypoäolischen
e f g a h c' d' e'so dass nun 12 Kirchentöne existierten (vergleiche Glareans "Dodekachordon"). Der siebte authentische Ton, der lokrische (siehe dort), kam nie zu Bedeutung. Vergleiche folgende Übersicht:
[Riemann Musik-Lexikon 1882, 450f]