Generalbaß (1882)
Generalbaß [heutige Schreibung: Generalbass] ist eine seit Ende des 16. Jahrhunderts in Italien aufgekommene, bald allgemein gewordene Akkordschrift durch Zahlen, die einer notierten Bassstimme übergeschrieben oder untergeschrieben sind. Dieselbe hatte ursprünglich die Bedeutung, welche heute der Klavierauszug hat. Damit nämlich der begleitende Cembalist oder Organist nicht aus der Partitur einer mehrstimmigen Gesangskomposition sich mühsam die zur Stütze des Chors beim Einstudieren wie bei der Aufführung erforderlichen Harmonien zusammensuchen musste (Partituren heutiger Art waren zudem noch nicht üblich, vergleiche Partitur und Tabulatur), schrieb man über die jeweilig tiefste, später über eine besondere, von Anfang bis zu Ende mitgehende Bassstimme (Basso continuo) Zahlen, welche den Stufen entsprechen, auf denen sich die verlangten Töne vorfinden, gerechnet vom Basston aus, nach den Vorzeichen der Tonart.
Eine 3 fordert den dritten Ton (Terz) vom Basston aus, eine 6 den sechsten (Sexte) etc. Sollte ein anderer Ton genommen werden als der, welcher die Tonart ergab, so musste das durch ein Versetzungszeichen bei der Zahl besonders gefordert werden. Schon damals bildeten sich viele der heute üblichen Abkürzungen der Generalbassbezifferung aus, welche weiter unten aufgezählt sind. Das Generalbassspielen war eine Kunst, die einen sattelfesten Kenner des musikalischen Satzes erforderte, denn die Akkorde wurden nicht einfach gegriffen, wie sie verzeichnet standen, die Terz nicht als wirkliche Terz, sondern nach Bedürfnis eine oder zwei Oktaven höher. Die Ziffern gaben überhaupt nur an, welche Töne genommen werden sollten, aber nicht, in welcher Oktavlage. Die Akkorde wurden nach den Regeln der Stimmführung verbunden, und ein geschickter Generalbassspieler wusste den Satz noch obendrein durch Läufe, Triller, Vorschläge etc. zu verzieren.
Heute [um 1880] ist das Schreiben eines Generalbasses in der Komposition und zufolge dessen auch das Generalbassspielen außer Gebrauch gekommen, die Generalbässe in den Werken alter Meister sind vielfach von geschickter Hand zu einer guten Orgel- oder Klavierbegleitung ausgeführt (R. Franz u. a.), und der Generalbass existiert nur noch als gemeinnütziges Vehikel der Harmonielehre. Die Aufgaben unserer Harmonielehren sind usuell im Generalbass notiert, und zwar bedient man sich dabei folgender Zeichen (Signaturen):
Das Fehlen jedes Zeichens fordert Terz und Quint, wie sie sich nach dem Vorzeichen ergeben, d. h. den Dreiklang (siehe dort), ein übergeschriebenes Versetzungszeichen (♯, ♭etc.) verändert die Terz des Dreiklangs; soll die Quinte verändert werden, so muss das Veränderungszeichen neben die Zahl 5 gesetzt werden, die Erhöhung der Quinte um einen Halbton wird jedoch auch oft durch Durchstreichen der 5 angedeutet.Eine ohne Veränderungszeichen übergeschriebene 3 oder 5 (auch 8) verlangt die Terz oder Quinte (Oktave) für die Oberstimme. Nur bei der Bezeichnung von Vorhaltsauflösungen, zum Beispiel 4 3, 6 5, 9 8, bezieht sich die Zahl nicht ausdrücklich auf die Oberstimme;
in solchen Fällen kommt auch statt der 3 die 10 zur Anwendung, z. B. wenn Septime und None zur Oktave und Dezime fortschreiten sollen, 9/7 10/8 oder umgekehrt.
Eine 6 fordert Terz und Sexte, den sogenannten Sextakkord; ein Versetzungszeichen unter der 6 bezieht sich auf die Terz, Durchstreichen der 6 bedeutet deren Erhöhung um einen Halbton; doch kann die Erhöhung auch ebenso wie die Erniedrigung durch ein Versetzungszeichen neben der 6 angedeutet werden.
6/4 fordert Quarte und Sexte, den Quartsextakkord. Die Erhöhung der Quarte oder Sexte wird durch Durchstreichen oder, wie die Erniedrigung, durch ein Versetzungszeichen gefordert. Zum Beispiel (sämtliche Signaturen verlangen den C-Dur-Akkord):
Eine 7 fordert Terz, Quinte und Septime, also den Septimenakkord, wie ihn die Vorzeichen angeben. Akkorde allerverschiedenster Art können durch die einfache 7 gefordert werden:
- ist der G-Dur-Akkord mit kleiner Septime,
- der D-Moll-Akkord mit kleiner Unterseptime,
- der C-Dur-Akkord mit beigegebener großer Sexte,
- der C-Dur-Akkord mit großer Septime,
- ein verminderter Septakkord,
- der E-Dur-Akkord mit beigegebener kleiner Sexte.
Die Bezifferung verrät von der verschiedenen Bedeutung der Akkorde nichts, sowenig die oben gegebene Zusammenstellung verschiedenster Zeichen verrät, dass alle den C-Dur-Akkord bedeuten.
Die Veränderungen der Terz und Quinte im Septimenakkord werden wie beim Dreiklang bezeichnet, z. B. (Septakkord g-h-d-f):
6/5 (6/5/3) fordert Terz, Quinte und Sexte des Basstons, d. h. die erste Umkehrung des Septimenakkordes, im Anschluss an die Bezifferung Quintsextakkord genannt. Die Veränderungszeichen sind nach dem Vorausgegangenen verständlich.
4/3 oder 6/4/3 fordert die zweite Umkehrung des Septakkordes, den Terzquartsextakkord.
2 (6/4/2) fordert die Sekunde, Quarte und Sexte, den Sekundquartsextakkord oder [kurz] Sekundakkord, die dritte Umkehrung des Septimenakkords.
Weiterer abkürzender Zahlzeichen bedient sich der Generalbass nicht, vielmehr fordert jede Zahl den Ton, der durch sie bezeichnet wird, zum Beispiel 5/4 Quarte und Quinte ohne Terz; 9/7 verlangt zum Septimenakkord noch die None (Nonenakkord) usw.
Waagerechte Striche über dem Basston bedeuten Liegenbleiben der Töne der vorausgegangenen Harmonie oder, wenn auch der Basston derselbe bleibt, überhaupt dieselbe Harmonie. Eine Null (0) bedeutet Pausieren der übrigen Stimmen (Tasto solo).
Über eine zeitgemäße Reform der Generalbassbezifferung vergleiche Klangschlüssel. Die ältesten Erklärungen der Generalbasszeichen finden sich bei Cavalieri (1600), Viadana (1603), Agazzari (1606), Michael Prätorius (1619) u. a.; von neueren Generalbassschulen seien die von Heinichen (1711), Mattheson (1751), Ph. E. Bach (1752), Marpurg (1755), Kirnberger (1781), Türk (1781), Choron (1801), Fr. Schneider (1820), Fétis (1824), Dehn (1840), E. F. Richter (1860) erwähnt. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 298f]