Fuge (1882)
Fuge, die [um 1880] am höchsten entwickelte Kunstform des konzertierenden Stils, in welcher die Gleichstellung der beteiligten Stimmen zur äußersten Konsequenz geführt wird, indem ein prägnantes, kurzes Thema dieselben abwechselnd durchläuft und bald die eine, bald die andere hervortreten lässt. Die Fuge ist daher mindestens zweistimmig.
Aus den kanonischen Spielereien der Niederländer (15.-16. Jahrhundert) entwickelte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts allmählich unsere heutige Quintfuge. Der Name Fuga bedeutete im 15.-16. Jahrhundert das, was wir jetzt Kanon nennen, während die freieren Bildungen seit Ende des 16. Jahrhunderts, welche manchmal unserer Fuge schon ähneln, Ricercar, Toccata, Phantasie, Sonate hießen. Die wichtigsten Namen der älteren Geschichte der Fuge sind: Andrea und Giovanni Gabrieli, Frescobaldi, Froberger, J. P. Sweelinck, Scheidt, Pachelbel, Buxtehude. Ihre höchste künstlerische Ausbildung erhielt sie durch Johann Sebastian Bach (instrumental) und Händel (vokal).
Die wesentlichsten Teile und Termini technici der Fuge sind: Das Thema (Führer, Subjekt, dux, guida, proposta), von der beginnenden Stimme zuerst allein vorgetragen, worauf eine zweite mit der Antwort (Gefährte, comes, risposta, conseguente) einsetzt, während die erste dagegen einen rhythmisch und melodisch prägnanten Kontrapunkt ausführt (Gegensatz, Kontrasubjekt). Ist die Fuge mehr als zweistimmig, so bringt die dritte Stimme wieder den Führer, die vierte den Gefährten etc. Das einmalige Durchlaufen des Themas durch alle Stimmen heißt eine Durchführung (Wiederschlag). Je größer die Zahl der Stimmen der Fuge ist, desto größer pflegt auch die der Durchführungen zu sein, weil die Folge der Stimmeneinsätze eine desto mehrfachere Permutation gestattet, zum Beispiel (D = Dux, C = Comes, 1, 2, 3 = 1., 2., 3. Stimme, von oben nach unten gezählt):
I. (zweistimmig): 1 D 2 C - 2 D 1 C.
II. (dreistimmig): 1 D 2 C 3 D - 1 D 3 C 2 D - 2 D 1 C 3 D - 2 D 3 C 1 D - 3 D 2 C 1 D - 3 D 1 C 2 D.
III. (vierstimmig): 1 D 2 C 3 D 4 C - 1 D 2 C 4 D 3 C - 1 D 3 C 2 D 4 C […]etc., im ganzen 24 verschiedene Stimmfolgen, die mit dem Dux einsetzen und regelmäßig mit Dux-Comes wechseln. Die fünfstimmige Fuge gestattet aber 120 verschiedene Stimmenfolgen dieser Art. Dazu kommen ebenso viele Möglichkeiten für die im Verlauf der Fuge auftretenden ferneren Durchführungen, welche mit dem Comes anfangen dürfen (die zweite Durchführung beginnt sogar regelmäßig mit dem Comes), sowie die Lizenzen, dass zwei Stimmen nacheinander den Dux oder Comes bringen. Die Vielgestaltigkeit der Fuge trotz des scheinbaren Schematismus ist hieraus klar ersichtlich.
Der Gefährte ist eine Transposition des Führers auf die Quinte (Unterquarte, Oberduodezime, Unterundezime) - und zwar entweder eine ganz getreue Transposition (Realfuge) oder eine durch Rücksichten auf die Festhaltung der Tonart modifizierte (tonale Fuge, Fuga de tono). Das Hauptgesetz für die tonale Beantwortung des Fugenthemas ist, dass Tonika und Dominante (Prime und Quinte der Tonart) einander gegenseitig antworten, z. B.:
Bei Bach sind beide Arten häufig zu finden. Vergleiche Hauptmanns "Erläuterungen zu Bachs Kunst der Fuge" sowie desselben bezügliche Aufsätze in den "Wiener Rezensionen".
Der ersten Durchführung (Exposition) der Fuge folgt ein meist nur kurzes Zwischenspiel (Zwischensatz, divertimento, andamento), das Motive des Themas oder Kontrasubjekts frei verarbeitet und eine leichte Modulation in eine verwandte Tonart macht, aber schnell zurückkehrt. Bei ausgedehnteren Fugen müssen die Zwischenspiele (Episoden) interessant gestaltet werden, wenn nicht die ewige Wiederkehr des Themas ermüden soll. Eine dritte oder vierte Durchführung pflegt man frei anzulegen, das Thema in anderer Tonart zu bringen und die Antworten nicht in der Quinte, sondern in anderen Intervallen, auch wohl wieder anderen Tonarten.
Besondere Freiheiten sind die Beantwortung des Themas in der Umkehrung, Verkürzung oder Verlängerung und mit einzelnen rhythmischen Abweichungen. Die letzte Durchführung ist in der Regel ein kontrapunktisches Kunststück, nämlich die mehrfache Engführung (stretto) von Führer und Gefährten (Einsätze in schneller Folge, so dass beide teilweise zugleich erklingen). Wird das Kontrasubjekt neben dem Hauptthema gleichfalls durchgeführt, so entsteht die Doppelfuge (siehe dort). Vergleiche auch Choralbearbeitung. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 277f]