Gegenbewegung ist das Gegenteil der Parallelbewegung, vergleiche Bewegungsart. Über das Verbot mancher Parallelfortschreitungen und ihre Vermeidung durch Gegenbewegung vergleiche Parallelen und Stimmführung.
Über Gegenbewegung im anderen Sinn, nämlich als Umkehrung eines Themas (Thema in der Gegenbewegung), welche im imitatorischen Stil eine Rolle spielt, vergleiche Umkehrung. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 296]
Gegenbewegung, motus contrarius. A) Eines der drei Bewegungsverhältnisse, in welchem zwei Stimmen einer Akkordfolge oder eines Kontrapunktes miteinander fortschreiten können. Darin bestehend, dass die Stimmen entweder stufen- oder sprungweise aufeinander zugehen oder voneinander sich entfernen:
Sie ist die vorzüglichste von allen Fortschreitungsarten, indem durch sie die Selbstständigkeit des Tonganges der Stimmen am sichersten bewahrt und daher auch grammatikalische Stimmführungsfehler vermieden werden. Doch kann ausschließliche Gegenbewegung nur zwischen zwei Stimmen herrschen, sind deren mehrere vorhanden, so treten mehrere Bewegungsarten zugleich, also entweder die Gegenbewegung mit der Parallel- oder Seitenbewegung oder die Parallel- und Seitenbewegung ohne Gegenbewegung oder alle drei Bewegungsarten gemischt auf. Näheres hierüber sowie über Vermeidung von Fehlern durch Gegenbewegung ist in den Artikeln Kontrapunkt, Fortschreitung der Intervalle etc. zu finden.
B) Etwas näher zu betrachten bleibt hier diejenige Art der Gegenbewegung, von welcher im doppelten Kontrapunkt, im Kanon, in der Nachahmung und Fuge Gebrauch gemacht wird, indem eine Stimme eine andere in der Gegenbewegung beantwortet, oder zwei Stimmen in dieser Bewegungsart umgekehrt werden. So ist zum Beispiel in nachstehendem kanonischen Sätzchen die zweite Stimme nichts anderes als die in der Gegenbewegung dargestellte erste. Jeder Schritt, den die Proposta aufwärts macht, wird von der Risposta mit einem gleichweiten Schritt abwärts beantwortet - und umgekehrt:
Diese Gegenbewegung ist zweierlei Art, streng oder frei. 1) In der strengen Gegenbewegung müssen die diatonischen Halbtöne, auf deren richtiger Folge die Einheit der Tonalität beruht, an denselben Stellen wie in der Hauptstimme vorkommen. Denn mit der Stellung derselben wird auch der tonliche Sinn der Melodie verändert. Aus folgenden Schematen [sic] ist zu ersehen, welches Intervall der in der Gegenbewegung geführten Nachahmung dem entsprechenden der Hauptstimme zu antworten hat. Steht der Satz in der Durtonart, so schreibt man die aufsteigende Oktave des Haupttones und die absteigende Oktave von der Terz des Haupttones untereinander, also zum Beispiel:
c d e^f g a h^c
e d c^h a g f^e
woraus hervorgeht, dass eine Melodie, welche z. B. mit den Tönen g f e beginnt, in der strengen Gegenbewegung mit den Tonschritten a h c anheben muss, indem der Halbton f^e einen Halbton als Antwort fordert und nun in dem Tonschritt h^c auch erhält.
Wollte man die aufsteigende Oktave des Haupttones mit der absteigenden Oktave desselben beantworten, also folgendermaßen:
c d e^f g a h^c
c^h a g f^e d c
so würde die Folge der halben und ganzen Töne in der Antwort eine andere als in der Hauptstimme, die Gegenbewegung wäre keine strenge.
In der Molltonart wird die aufsteigende Oktave des Haupttones mit der absteigenden Oktave der kleinen Septime desselben beantwortet:
a h^c d e^f g a
g f^e d c^h a g
Tonart im modernen Sinne unkenntlich gemacht ist, wenn man der Septime, wie auch der Sexte, nicht in zweifacher Gestalt (groß und klein) sich bedienen will. E. F. Richter stellt in seinem Lehrbuch von der Fuge (Leipzig 1859, S. 10) folgende Intervallreihe für die Gegenbewegung auf:
Intervallreihe nach E. F. Richter
Doch treffen an einer Stelle die Halbtöne (h^c) nicht zusammen, und deshalb kann diese Gegenbewegung keine strenge sein, wenn man nicht etwa den Ton c in der Hauptstimme vermeiden will.
In den hier aufgeführten Schematen sind nur die diatonischen Töne angegeben, mit Hinzufügung der chromatischen Zwischentöne stellt sich für die Gegenbewegung in der Durtonart diese Folge heraus:
C c♯ D d♯ E e♯/F f♯ G g♯ A a♯ H h♯/C
E e♭ D d♭ C c♭/H b A a♭ G g♭ F f♭/E
A a♯ H h♯/C c♯ D d♯ E e♯/F f♯ G g♯ A
G g♭ F f♭/E e♭ D d♭ C c♭/H b A a♭ G
Das oben in Notenbeispiel 2 angeführte Beispiel einer Nachahmung ist in strenger Gegenbewegung abgefasst.
2) Die freie Gegenbewegung braucht die Beantwortung der diatonischen Halbtöne an gleicher Stelle nicht einzuhalten. Die in Gegenbewegung geführte Stimme ahmt also die Folge der ganzen und halben Töne der Hauptstimme nicht nach. Folgende zwei Arten sind die gewöhnlichsten und bequemsten: a) Der aufsteigenden Oktave des Haupttons wird die absteigende Oktave desselben entgegengesetzt:
C D E F G A H C
C H A G F E D C
Der Hauptton wird also wieder zum Haupttone, die Sekunde zur Septime, die Terz zur Sexte etc.
b) Oder der aufsteigenden Oktave des Haupttones wird die absteigende Oktave der Dominante entgegengesetzt:
C D E F G A H C
G F E D C H A G
In beiden Arten treffen die Halbtöne nicht zusammen. Nachstehend ein Beispiel von freier Gegenbewegung, die Oktave des Haupttones ist mit der Oktave der Dominante beantwortet: