Fortschreitung der Intervalle (1865)
Fortschreitung der Intervalle. Die grammatische Richtigkeit einer Harmonieverbindung ist großenteils bedingt durch die Fortbewegung der Stimmen aus einem Akkorde in den andern. Und nur von den Fortschreitungsarten, welche die Intervalle einschlagen können oder ihrer Natur nach einschlagen müssen, damit eine fehlerlose Harmoniefolge zu Stande komme, soll hier gehandelt werden - nicht von der melodischen Schönheit einer Tonfolge oder den Bedingungen einer sangbaren Stimmführung, sondern eben nur von Richtigkeit oder Unzulässigkeit verschiedener Bewegungsarten in mehreren Stimmen gleichzeitig erklingender Intervalle, in ihrer Bedeutung als harmonische Bestandteile einer Akkordfolge.
Es ist dreierlei zu erklären:
A. Das allgemeine Bewegungsverhältnis, in welchem zwei oder mehrere Stimmen zueinander stehen können. Ferner, da es zwei Hauptgattungen ihrer Natur nach verschiedener Intervalle gibt, nämlich Konsonanzen und Dissonanzen, und diese auch in Hinsicht auf Fortbewegung voneinander sich unterscheiden, sofern jene frei sich fortbewegen, diese an eine Auflösung gebunden sind:
B. Die Fortschreitung der Konsonanzen, und
C. Die Auflösung der Dissonanzen.Hierbei ist vorauszuerinnern, dass man Fortschreitung und Auflösung als zwei verschiedene Begriffe auseinanderzuhalten hat. Fortschreitung ist freie schritt- oder sprungweise Fortbewegung der Konsonanz; Auflösung ist die jederzeit an einen Sekundenschritt gebundene Fortbewegung der Dissonanz. Tonlehrer der neuesten Zeit [um 1865] haben diese beiden Begriffe durcheinandergeworfen, sprechen ebenfalls von Fortschreitung der Dissonanzen und wollen den Begriff einer gebundenen Auflösung damit aufgegeben wissen, weil allerdings, wie von jedem anderen Gesetz so auch von diesem, Ausnahmen stattfinden, in denen der reguläre Gang der Dissonanz aufgehoben erscheint. Doch sind es eben nur Ausnahmen, denen gegenüber die Natur der Dissonanzen stets ihr Recht behauptet. Übermäßige Intervalle werden ihre Neigung aufwärts, verminderte ihre Neigung abwärts zu gehen, niemals verleugnen, trotz des unentschiedenen Ansehens, welches die gleichschwebende Temperatur ihnen zu geben scheint, und wodurch auch jene Tonlehrer verleitet werden, die natürliche Notwendigkeit einer Auflösung anzuzweifeln, indem sie übersehen, dass ein gutes Gehör durch die Ausgleichung der gleichschwebenden Temperatur sich nicht behindern lässt, z. B. die kleine Septime anders aufzufassen als die übermäßige Sexte, ungeachtet beide auf gleicher Klaviertaste liegen.
A. Das Bewegungsverhältnis mehrerer Stimmen ist dreifacher Art:
a) Die gerade oder Parallelbewegung, motus rectus: Zwei oder mehrere Stimmen steigen oder fallen in gleicher Richtung stufen- oder sprungweise, Notenbeispiel 1a.
b) Die Seitenbewegung, motus obliquus: Eine Stimme verbleibt auf ihrer Stufe, während eine andere stufen- oder sprungweise auf sie zugeht oder von ihr hinwegschreitet, Beispiel 1b.
c) Die Gegenbewegung, motus contrarius: Zwei Stimmen schreiten stufen- oder sprungweise aufeinander zu oder voneinander hinweg, Beispiel 1c.
Die Gegenbewegung ist die vorzüglichste, indem sie die melodische Selbständigkeit der Stimmen am entschiedensten bewahrt; demnächst die Seitenbewegung; in der Parallelbewegung hingegen wird das Verhältnis der Stimmen, als das einer begleitenden zu einer Hauptstimme, unfreier, und auf sie finden die meisten auf Stimmführung bezüglichen Verbote Anwendung. Bei mehr als zwei Stimmen kommen gewöhnlich zwei oder alle drei Bewegungsarten gleichzeitig vor. So schreiten in folgendem Beispiel die Stimmen nur vom zweiten zum dritten Akkorde durchaus in Parallelbewegung fort. In allen anderen Akkordfolgen finden sich wenigstens zwei Bewegungsarten zugleich vor:
B. Die Fortschreitung der Konsonanzen. Indem die konsonierenden Intervalle in zwei Hauptgattungen, vollkommene und unvollkommene, sich teilen, sind bei Fortbewegung derselben vier Hauptfälle möglich. Sie kann geschehen
1) von einer vollkommenen Konsonanz zu einer anderen vollkommenen;
2) von einer unvollkommenen zu einer vollkommenen;
3) von einer vollkommenen zu einer unvollkommenen und
4) von einer unvollkommenen zu einer unvollkommenen.1. Die Fortschreitung von einer vollkommenen Konsonanz (Einklang, Oktave und Quinte) zu einer anderen vollkommenen Konsonanz erfolgt entweder
a) zwischen Konsonanzen von gleicher Art, also von einem Einklang oder einer Oktave zu einem anderen Intervall derselben Art, oder von einer Quint zu einer anderen; oder
b) zwischen vollkommenen Konsonanzen von verschiedener Art, also von einer Quinte zu einer Oktave (Einklang) oder von einer Oktave (Einklang) zu einer Quinte. Ferner können diese Intervalle durch die Fortschreitung entweder zweier gleichen oder zweier verschiedenen Stimmen entstehen.Die Fortschreitung zweier vollkommenen Konsonanzen von einerlei Art in gleichen Stimmen und gerader Bewegung ist durch die alte Regel, dass zwei Quinten, zwei Einklänge und zwei Oktaven in gerader Bewegung und in zwei gleichen Stimmen unmittelbar nacheinander niemals gesetzt werden dürfen (Beispiel 3), verboten.
Das Quintverbot hat den Theoretikern lange Zeit hindurch viel zu schaffen gemacht, das Gehör empfand die Härte einer Parallele reiner Quinten in gleichen Stimmen, ohne dass die Theorie den eigentlichen Grund dafür anzugeben vermochte. Auch wurden die Tatsache und das Verbot selbst erst lange nach den ersten Versuchen in gleichzeitiger Verbindung mehrerer Stimmen erkannt und aufgestellt. Denn die ersten Zusammenklänge, in der einen Art des Organums Hucbalds (10. Jahrhundert), bestanden bekanntlich aus Quarten- und Quintenfolgen in paralleler Bewegung, also gerade aus einer solchen Intervallfolge, die man später und noch bis auf den heutigen Tag [Mitte des 19. Jh.] aufs strengste verbietet. Übrigens beruht die Ursache, weshalb man in den ersten mehrstimmigen Tonfolgen gerade der Quintenzusammenklänge insbesondere sich bediente, auf ganz erklärlichen Gründen: Erstens glaubte man durch Quintenverbindungen, zu denen dann noch die obere Oktave vom Basston aus hinzugesetzt wurde, eine möglichst wohlgefällige Folge von Zusammenklängen zu erreichen , da die Quinte vollkommene Konsonanz ist und nach dem damaligen Tonsystem noch vollkommener konsonierte als bei uns (während die Terzen und Sexten als Dissonanzen angesehen wurden), woraus wir allerdings nur schließen können, dass jene Quintenfolgen nach unserem Begriff etwa nicht besser, sondern noch härter geklungen haben müssen als nach unserer heutigen temperierten Tonbestimmung, in der die Quinte nicht so scharf, sondern im Verhältnis zum reinen System etwas zu tief ist. Ein zweiter Grund für die hauptsächliche Benutzung der Quinte als frühesten harmonischen Zusammenklang ergibt sich aus dem natürlichen Abstand der vier Hauptstimmengattungen. Bass, Tenor, Alt und Sopran liegen der Reihenfolge nach je um eine Quint voneinander, und man kann noch heutigen Tages ältere und junge Männer oder Frauen und junge Mädchen, die von den Gesetzen der Harmonie nichts wissen, Volksmelodien unwillkürlich, der bequemen natürlichen Stimmlage wegen, in Quinten singen hören.
Erst als man die Terzen und Sexten als Konsonanzen anerkannte, konnte man zu einer mehrstimmigen Musik im eigentlichen Sinne des Wortes gelangen. Denn jene Quintparallelen waren im Grunde doch nichts weiter als Verdoppelungen. Wie man aber darauf gekommen, das Quintverbot aufzustellen, ist nicht bekannt, jedenfalls aber ein Beweis, dass man schon bedeutend an harmonischer Einsicht gewonnen hatte. Zuerst scheint Joannes de Muris es ausgesprochen zu haben (siehe Gerbert, Scriptores III. 306)(1), und wenngleich man im 14. und zu Anfang des 15. Jahrhunderts noch einzelne Abweichungen davon findet, so war es doch zu dieser Zeit bereits allgemein anerkannt, und mit der mehr und mehr sich vervollkommnenden Reinheit der Stimmführung verschwanden die Quintenfolgen gänzlich. Viele Theoretiker haben seither sich bemüht, den Missklang der Quinten- wie auch der Oktavenfolgen teils aus der Vollkommenheit dieser Intervalle (man begegnet dem Ausdruck, dass sie, als ein Übermaß von Vollkommenheit, nicht fasslich seien), teils aus den ihnen eignen den Zahlenverhältnissen, teils aus der näheren oder entfernteren Verwandtschaft der Töne, denen sie angehören, zu erklären. So findet man außer den einzelnen in Harmonielehren zerstreuten Bemerkungen darüber im 4. Bande des 2. Teiles der Mizlerschen musikalischen Bibliothek nicht weniger als sieben verschiedene Abhandlungen über den Grund des Quinten- und Octavenverbotes - allein sie überzeugen den unbefangenen Verstand sehr bald, dass sie der Sache nicht auf den Grund gekommen sind.
So lange man darauf ausgegangen ist, das Quintenverbot aus ebenderselben Ursache, aus welcher man das Verbot der Oktavparallelen herzuleiten suchte, zu erklären, mussten überhaupt alle Versuche, die Sache aufzuhellen, scheitern: denn Oktave und Quinte sind ihrer Natur nach zu sehr verschieden, als dass ein gemeinsamer Grund für den Missklang der Parallelen beider Intervalle sich auffinden ließe. Nicht alle Folgen reiner Quinten machen einen gleich unangenehmen Eindruck auf das Gehör. Wesentlichen Anteil an dem verschiedenen Grade des Missbehagens, welches sie in uns erwecken, wird jedenfalls in der vorhin schon berührten näheren oder ferneren Verwandtschaft der Töne, denen die betreffenden Quinten angehören, zu finden sein. Die Quint stellt den Dreiklang dar, zwei stufenweise aufeinanderfolgende Quinten (z. B. C-G - D-A) drücken zwei unvermittelte Dreiklänge aus, von denen ein jeder eine andere Tonart repräsentiert, wenngleich beide derselben Grundtonart leitereigen sind. Die Folge dieser Dreiklänge oder, was dasselbe ist, die Folge ihrer Quinten macht den Eindruck zweier Anfänge ohne Fortsetzung. Sollen die Akkorde C-E-G und D-F-A regulär miteinander verbunden werden, so fordern sie das Dazwischentreten eines Akkordes, der mit ihnen beiden wenigstens einen Ton gemein hat, also C-E-A oder C-F-A. Dieser Vermittlungsakkord aber wird in der direkten Folge von C-E-G und D-F-A übersprungen und daher die Härte. Es mag auch das in zwei Quinten anklingende zweifache Dominantverhältnis mit zu der Härte und Spannung, welche wir bei ihrer Folge empfinden, beitragen. In der Quinte C-G ist die Dominante G von C enthalten, und in dem Ton A der Quinte D-A erklingt die Dominante von D, somit erscheint in den Folgen dieser zwei Quinten ein doppeltes Tonika- und Dominantverhältnis, C G D A, zugleich, ohne Lösung.
Am härtesten klingt eine rein zweistimmige Folge stufenweise fortschreitender Quinten: Treten die Terzen hinzu, so dass also vollständige Dreiklänge entstehen, so wird die Härte bereits etwas gemildert. Der Gegensatz zum Grundton, welcher in dem Verhältnis der Quint als dem harmonischen Mittel der Oktave ausgedrückt ist, tritt um so schärfer bei leeren Quinten hervor und wird durch die vermittelnde Terz etwas ausgeglichen. Je näher aber die durch die Quinten dargestellten Akkorde verwandt sind, desto mehr verliert die Folge von ihrem Missklang, namentlich wenn sie nicht rein zweistimmig ist oder in den beiden oberen oder in den äußeren Stimmen einer mehrstimmigen Akkordfolge liegt, sondern durch andere Stimmen gedeckt wird. Der Rest von Härte, welcher für ein gebildetes Ohr den Quinten zwischen Tenor und Bass in Beispiel 4a noch verblieben sein möchte, liegt weniger in mangelnder Verbindung der Akkordfolge als in steifer Führung der Tenorstimme, welche dem Bass nachspringt, statt ihren eigenen Weg zu nehmen. Die Quinten unter 4b klingen nur scharf und leer, nicht harmonisch falsch, und unter 4c ist das Widrige der Parallele zwischen Alt und Tenor sehr merklich vermindert durch die darüber und darunter liegenden anderen Intervalle, besonders da die Akkorde in einer der Natur der Tonart entsprechenden Ordnung aufeinanderfolgen, und es lässt sich bei nahe behaupten, dass solche Sätze nicht allein für das feinste Ohr des Nichtkenners, welches sonst doch andere Unschicklichkeiten im Satze leicht bemerkt, sondern auch für das Gehör des praktischen Tonkünstlers nichts Beleidigendes haben. Wenigstens stimmt die Erfahrung, die man täglich darin machen kann, mit dieser Behauptung überein.
Quintparallelen sind also nur dann wirklich ohrbeleidigend, wenn sie
a) in gleichen Stimmen liegen; Selbständigkeit des Stimmenganges hebt die Härte der Quintfortschreitung völlig auf, die Quinten im Beispiel 5a sind unter 5b durch Gegenbewegung vollständig umgangen, es wird nicht die geringste Härte fühlbar;
b) wenn sie im zweistimmigen Satz die ganze Harmonie ausmachen und im dreistimmigen nicht durch eine äußere Stimme gedeckt sind; doch werden sie im dreistimmigen Satz jederzeit besser vermieden, der strenge Satz verbietet sie durchaus. Ferner wenn sie im vier- und mehrstimmigen Satz offen in den zwei oberen oder in den zwei äußeren Stimmen liegen, in den Mittelstimmen sind sie eher zu dulden;
c) wenn sie unter Berücksichtigung der eben angeführten Umstände wirkliche harmonische Geltung haben, nicht nur durch Zusammentreffen melodischer Stimmenbewegung entstehen; ist letzteres der Fall, so sind sie ohne jedes Bedenken gestattet, die Quinten unter Beispiel 5c haben durchaus nichts Übelklingendes.Die nachstehend unter Beispiel 6 angeführten Quinten an einer Stelle der Schlummerszene in Armida von Gluck bedürfen keiner Rechtfertigung durch eine poetisierende Phrase, wie ein Theoretiker der Gegenwart sie ihnen zukommen lässt, indem er sie "als den letzten Zug für jenes Gemälde wollüstig auflösenden Schlummers, den die Zauberin über den Helden niedertauen lässt", erklärt. Alle poetisierenden Redensarten hinweggeschafft, sind es nichts als zufällig, durch melodische Noten, entstandene Quintenzusammenklänge, gegen die niemand etwas einwenden wird.
Durch Gegenbewegung können Quintenfolgen zwar umgangen werden, wie wir vorhin gesehen haben, doch können, auch im mehrstimmigen Satz, selbst Quinten in der Gegenbewegung, wenn sie in den äußeren Stimmen liegen, mitunter von zweifelhafter Wirkung sein, Beispiel 7a. Eigentlich aber hat man die gewisse Unvollkommenheit, welche einer derartigen Auflösung des Dominantdreiklanges in den tonischen Dreiklang unverkennbar anhängt, weniger auf Rechnung der Quintenfolge zu bringen und noch weniger auf Rechnung der Verbindung unvermittelter Akkorde, sondern sie ist einer gewissen Steifheit des Stimmenganges zuzuschreiben, indem die None d, statt in die Terz e oder in die Oktave c zu resolvieren, in die Quint hinunterspringt. In den Mittelstimmen eines mehrstimmigen Satzes sind solche Quinten unbedenklich zu gestatten. Mitunter sind auch Stimmenkreuzungen ein gutes Mittel, Quintenfolgen durch Gegenbewegung aufzuheben. Die Stimme, welche in der voranstehenden Quinte das untere Glied besetzt hat, schreitet zum oberen Gliede der nachfolgenden fort, und die andere Stimme geht aus dem oberen Glied der ersten Quinte in das untere der zweiten, oder umgekehrt. Die Quinten unter 7c (zwischen Bass und Tenor) sind unter 7b durch Kreuzung des Tenores und Altes vermieden. Zwischen Stimmen von ungleicher Klangfarbe, oder überhaupt zwischen melodisch selbständig geführten Gesangstimmen, sind solche Quinten unter allen Umständen unschädlich, denn das Gehör unterscheidet den Gang der einzelnen Stimmen. Auf dem Klavier oder der Orgel, oder wo sonst der Stimmengang nicht deutlich erkenn bar ist, klingen sie, wenn die betreffende Stelle überdies mehr auf harmonische Gesamtwirkung als auf melodische Stimmenselbständigkeit ausgeht, allerdings schlecht. In solchem Falle hilft die Kreuzung der Stimmen nichts, denn das Gehör erfasst nur die harmonische Fortschreitung, ohne den Stimmengang im einzelnen verfolgen zu können. Man nennt solche für das Auge nicht vorhandene aber ins Gehör fallende Quinten Gehörquinten.
Das Beispiel aus Stabat Mater unter 7b führt Ambros an (Zur Lehre vom Quintenverbote, Leipzig, S. 8), als Beweis, dass die Quinten zwar nicht für das Auge, wohl aber für das Gehör vorhanden seien, wenn man die Akkordfolge wie unter 7c zusammenschreibt. Doch ist dieser Satz eben nicht auf eine bloße Akkordwirkung berechnet, sondern für reell selbständige Stimmen geschrieben, wodurch die Sache in ganz anderem und allein richtigem Lichte erscheint. Gar zu weit gegangen ist es aber doch, wenn Ambros (S. 9) eine Quintfolge, welche durch eine nach längerer Pause hinzutretende dritte Stimme entsteht, als wirkliehe Quintparallele betrachtet (vergl. hierüber auch Bellermann, Contrapunkt S. 67). Dass namentlich stufenweise Folgen harmonischer Quinten, besonders unter den beschriebenen Umstanden, fehlerhaft sind, liegt außer allem Zweifel, auch wenn man, vollständig unbeeinflusst von der Theorie, nur dem guten und gebildeten Gehör nachgibt. Man wird sie ebenso wenig dulden wie grammatische Fehler in der Sprache. Doch ist man in Betreff des Quiutenverbotes nach beiden Seiten zu weit gegangen. Die einen wollen es absolut aufgehoben wiesen und behaupten, das ganze Gesetz sei nichts als ein bloses durch sein Alter geschütztes Herkommen, dem mau heutzutage nur noch nachgäbe, weil Theorie und Kritik mehrere Jahrhunderte hindurch steif und fest daran gehalten haben, während ein Unbefangener, der mit gutem Gehöre ausgestattet sei, aber von dem Verbote selbst nichts wüsste, auch dessen Verletzung keineswegs Übel empfinden würde. Unter anderem sagt Herr Weitzmann in seiner Preisschrift (Harmoniesystem, Leipzig): "Soviel verschiedene Gründe man aber auch aufgesucht hat, parallele Quinten als naturwidrig zu erklären, so scheint das Verbot derselben dennoch nur auf Meinung und Vorurtheil, nicht aber auf Naturnothwendigkeit oder haltbaren Verstandesschlüssen zu beruhen. Jahrhunderte hindurch hat das musikalische Ohr Wohlgefallen an fortgesetzten Quintenfolgen gefunden, und unsere anerkanntesten Meister haben sich die Freiheit genommen, Quinten in stufen- und sprungweiser Folge auftreten zu lassen". Als Beleg für den letzten Satz führt Herr Weitzmann folgende Trugfortschreitungen in vollgriffigen Akkorden aus Beethovens Op. 53 an (Beispiel 8).
Aus diesem Beispiel folgert er: "Die neuere musikalische Grammatik kann also ohne Bedenken jenes Verbot paralleler Quinten aufheben, um so mehr, da sich dasselbe niemals auf deren Umkehrung, auf Parallelen von Quarten, welche doch ganz dieselbe harmonische Bedeutung haben, ausgedehnt hat". Hierin ist aber mehr als zu viel Oberflächliches und Falsches. Denn wir haben erstens gar keinen Beweis dafür, dass das musikalische Ohr Jahrhunderte lang wirkliches Wohlgefallen an fortgesetzten Quintfolgen gehabt hat, wohl aber zeugt dagegen, dass das Quintverbot erkannt und aufgestellt wurde, als der Sinn für Reinheit mehrstimmiger Fortschreitung sich entwickelte, und die größten Meister, denen Befreiung von einem Vorurteile sicher ein Leichtes gewesen wäre, es aufrecht erhalten haben. Jedenfalls können also jene primitiven, außerdem sicher mehr auf dem Wege der Theorie als der Praxis entstandenen Versuche ebenso wenig als die oben erwähnten naturalistischen Quintenfolgen im Volksgesang als Beweise dienen gegen ein später, als die Kunst eine höhere Entwickelungsstufe betreten hatte, erkanntes Gesetz. Das beigebrachte Beispiel aus der C-Dur-Sonate beweist übrigens gar nichts, denn die zwischen Tenor und Bass liegenden Quinten werden in dieser Vollgriffigkeit nicht gehört und sind durch die Gegenbewegung der ganzen Akkorde so vollständig gedeckt, dass Niemand daran Anstoß nehmen wird. Im vierstimmigen oder gar dreistimmigen Vokalsatz aber wird ihnen jedermann, der ein reines Gehör hat, aus dem Wege gehen. Falsch ist, dass Quart und Quint dieselbe harmonische Bedeutung haben, zur Widerlegung reicht schon der eine Umstand hin, dass die Quinte jederzeit als vollkommene Konsonanz, die Quarte aber in den meisten Fällen als Dissonanz behandelt werden muss. Außerdem aber ist es der alten sowohl als neueren Theorie niemals eingefallen, alle Quartenparallelen zu gestatten. Im zweistimmigen Satz verbietet sie sogar die einzelne Quart, wenn sie, als Dissonanz, nicht vorbereitet auftritt, geschweige denn ihre Parallelen, und im mehrstimmigen Satz werden solche nur in Sextakkordfolgen, mit unterhalb liegender Terz (9a), niemals aber in Quartsextfolgen, mit oberhalb liegender Terz, gestattet (9b)(2).
Wenngleich nun solche Befreiungsversuche von einer gültigen Regel, als auf falschen Gründen beruhend, abgelehnt werden müssen, so ist doch auf der anderen Seite das Vergnügen am Quintensuchen ungemein kleinlich, und ein Kritiker der in einem Werke nur auf Quinten fahndet, kommt denn auch endlich dazu, unschuldige Fälle als Verbrechen gegen eine Regel, deren Geltung nicht unter allen Umständen eine durchaus unbedingte ist, anzusehen und schließlich sich arg zu vergreifen, wenn er deswegen ein Werk verurteilen will. Man muss also jederzeit Gehör und Geschmack walten lassen, um nach beiden Seiten hin Maß zu halten.
B. Das Verbot der Oktav- und Einklangsparallelen in gleichen Stimmen hat man versucht aus einem ähnlichen Grunde wie das Quintverbot herzuleiten, indem man durch Fortschreitung zweier Oktaven, ähnlich wie durch Quinten, den Eindruck einer Folge zweier unvermittelten Akkorde empfange. Ist letzteres auch nicht ganz grundlos, so doch nicht gar viel darauf zu geben, denn die Oktav hat mit der Dreiklangsbestimmung im Grunde nichts zu tun, ist nichts als einfache Wiederholung des Grundtones in erhöhter Potenz, und kann ja im vierstimmigen Satze durch Verdopplung irgendeines anderen Intervalles ersetzt werden. Quinte und Oktave aber weichen ihrer Natur nach viel zu sehr voneinander ab, als dass die Unzulässigkeit ihrer Parallelen aus einer und derselben Ursache sollte entspringen können. M. Hauptmann sagt (Harmonik und Metrik, Leipzig 1853, S. 70): "Die Ursache der übeln Wirkung ist in beiden Fällen (bei Quinten und Octaven) nicht dieselbe: in der Quintfolge vermissen wir die Einheit der Harmonie, in der Octavfolge Verschiedenheit der Melodie", und damit ist der Unterschied auch in der Tat ganz klar ausgedrückt. Man hat in Betreff der Oktavfolgen zuerst auseinanderzuhalten, ob in einer Tonverbindung auf Selbständigkeit der Stimmen Anspruch gemacht wird oder nicht. Wird reelle Stimmenmehrheit gefordert, so liegt die schlechte Klangwirkung der Oktavparallelen im Unbedeutenden. Denn da die Oktave nichts anderes ist als derselbe Ton in verminderter Größe (2:1, doppelte Schwingungszahl) und demnach vollkommenste Konsonanz, der Einklang sogar Tonidentität selbst, so opfert die mit einer anderen in Oktaven oder im Einklang fortschreitende Stimme ihren selbständigen melodischen Gang der unbedeutenden Begleitung im klangähnlichsten Intervall. Man hat die üble Wirkung der Oktavfolgen auch ihrer Klangleerheit zugeschrieben, doch ohne allen Grund, denn im vier- und mehrstimmigen Satze kann, sie mit Mittelstimmen ausgefüllt, mithin von Klangleerheit keine Rede sein, und wenn auch wirklich die Oktav, da sie bei Parallelen in zwei Stimmen zugleich fortschreitet, etwas deutlicher herausklänge als die übrigen Töne (was aber nicht gerade nötig ist) und man trotz der Mittelstimmen eine gewisse Leere empfände, so müsste diese Leere auch bei jeder in Gegenbewegung eingeführten Oktave erscheinen. Überdies gestattet selbst der strenge zweistimmige Kontrapunkt wenigstens die stufenweise Fortschreitung zur Oktave in Gegen- oder Seitenbewegung, verbietet sie nur in paralleler Bewegung. Dass eine auf dem Niederschlag im zweistimmigen Satz stehende Oktav leer klingt, wird niemand bestreiten, wenn auch das Gehör unwillkürlich die ausfüllenden Intervalle mitfühlt. Doch hat diese Leere durchaus nichts fehlerhaftes und sie entsteht nur daher, dass wir da, wo wir Verschiedenheit der Töne zu hören gewohnt sind, auf dem Niederschlag (der ohnehin stärker auf das Gefühl wirkt als der Auftakt), nur eine Verdoppelung desselben Tones hören. Beim Einklang wird dies noch merklicher, weshalb auch der strenge zweistimmige Kontrapunkt, ausgenommen am Schluss, das Zusammentreffen zweier Stimmen im Einklang auf Thesis auch in der Gegenbewegung verbietet, weil dadurch die harmonische Bewegung unterbrochen wird und man einen Schluss zu hören glaubt. Das Unangenehme, welches der Kenner auch im mehrstimmigen Satz in der Folge zweier Oktaven findet, beruht daher auf der Entdeckung, dass die zwei Stimmen, worin sie vorhanden ist, ihrer Verbindlichkeit, selbständig zu sein, nicht nachkommen. Dass dieser Mangel an Verschiedenheit des Fortschrittes der Stimmen, deren jede eigene Melodie sein soll, ein wirklicher Fehler des Satzes und als solcher durchaus zu vermeiden ist, bedarf keines weiteren Nachweises. Anders ist es, wenn die Stimmen von vorneherein entweder gar nicht die Aufgabe haben, selbständig zu sein, oder solcher vorhandenen Verbindlichkeit zeitweilig mit Absicht sich entheben. In solchen Fällen laufen die Oktavfolgen auf nichts anderes als eine einfache Oktavverdoppelung zum Zwecke einer Klangverstärkung oder Klangmischung hinaus, und es kann von fehlerhafter Fortschreitung keine Rede sein. Denn solche Sätze haben auch für das feinste Kennerohr nichts Anstößiges, sonst müssten Verdoppelungen von Melodien in zwei und drei Okta ven, deren ja im Orchester sehr viele zu finden sind, desgleichen Oktaven und Unisoni verschiedener Stimmengattungen, welche auch in guten Vokalsätzen vorkommen, unerträglich werden. Beispiele hierfür scheinen nicht erforderlich, man kann deren auf jeder Partiturseite finden.
B I. Fortschreitung zweier Stimmen von einer vollkommenen Konsonanz zu einer zweiten vollkommenen Konsonanz anderer Art, also von einer Quinte zu einer Oktave (Einklang) und umgekehrt; und ferner
B II. Fortschreitung von einer unvollkommenen Konsonanz zu einer vollkommenen ist im zweistimmigen Satz nur in Gegen- und Seitenbewegung jederzeit gestattet (mit der einzigen Ausnahme, dass der Einklang inmitten eines Stückes auf gutem Taktteil überhaupt vermieden werden soll, siehe Kontrapunkt, Beispiel 3c), in Parallelbewegung aber verboten; in vier- und mehrstimmiger Schreibart ebenfalls in Gegen- und Seitenbewegung unbedenklich, in Parallelbewegung nicht ohne Ausnahme zulässig. Denn durch Parallelbewegung entstehen sogenannte verdeckte Fortschreitungen, verdeckte Quinten oder Oktaven. Das erste Intervall ist keine Quinte oder Oktave, wohl aber das zweite, und die verdeckte Parallele verwandelt sich in eine offene, indem das Gehör unwillkürlich den Raum zwischen beiden Intervallen mit Durchgangstönen ausfüllt, wie man in Beispiel 10a dargestellt sehen kann. Die fehlerhafte Folge erscheint also auf dem Papier nicht direkt als solche, sondern bildet sich im Gehör. Im mehr als dreistimmigen Satz, und unter Umständen auch schon in diesem selbst, sind solche verdeckte Parallelen in vielen Fällen unschädlich, wenn
a) die Oberstimme stufenweis auf- oder abwärts geht, während der Bass einen Terzen-, Quinten- oder Quartensprung macht, demnach als zweites Intervall eine Quinte entsteht, so ist nichts dagegen einzuwenden, Beispiel 10b. Und ebensowenig gegen
b) die Oktave, welche als zweites Intervall erscheint, indem die Oberstimme von der None zur Oktav abwärts oder von der Septime der Tonart einen halben Ton zur Oktav aufwärts geht, während die Unterstimme eine Quint abwärts oder eine Quart aufwärts springt. Im zwei- und dreistimmigen strengen Satze ist diese verdeckte Oktavparallele zwar verboten, im vier- und mehrstimmigen aber durchaus zulässig, in der vollkommenen ganzen Kadenz ja unvermeidlich (Beispiel 10c).
c) Steigt die Oberstimme einen ganzen Ton, also von der kleinen Septime in die Oktav, während die untere ihren Quartsprung aufwärts macht, so entsteht eine eigentlich zwar weniger zu billigende, nichtsdestoweniger aber gleichfalls häufige und oft ganz unvermeidliche verdeckte Oktave (10d). Weniger gut, wenngleich in den Mittelstimmen zu dulden und ebenfalls oft nicht zu umgehen, in den äußeren oder beiden oberen aber wenn irgend möglich zu vermeiden, sind
d) verdeckte Quinten und Oktaven, deren Unterstimme schrittweise geht, während die obere springt (10e); doch kommt die Quint unter f auch in den Oberstimmen vor, und die Oktaven bei g, deren untere Stimme eine halbe Stufe steigt, werden auch in äußeren Stimmen ohne großen Nachteil anzuwenden sein, weniger aber die unter h, deren Unterstimme einen ganzen Ton aufwärts schreitet.
e) Wenn aber beide Stimmen springen, so sollen sowohl Quinten als Oktaven, wenn sie nicht demselben Akkorde angehören, also nur Versetzungen desselben sind, in den beiden oberen und in den äußeren Stimmen niemals und auch in den Mittelstimmen nur unter Berücksichtigung des vorliegenden Falles gebraucht werden (10i).In Betreff der unter b) und c), Beispiele 10c und 10d angeführten Oktaven ist noch nachträglich zu bemerken, dass sie nicht gerne gesehen werden, wenn der Akkord, in dem die Oktav erscheint, nicht ein Grundakkord, sondern ein Umkehrungsakkord (Sextakkord) ist (10k). Jederzeit erlaubt sind verdeckte Quinten und Oktaven, welche innerhalb desselben Akkordes, nur durch Versetzung seiner Intervalle, entstehen.
Wenngleich hier nur von Fortschreitungen der Konsonanzen und von Auflösung der Dissonanzen erst weiter unten gehandelt werden soll, kann doch, um die Quintenangelegenheit abzufertigen, gleich hier bemerkt werden, dass durch Verwandlung einer der beiden Quinten der Parallele in eine verminderte die Fehlerhaftigkeit der Fortschreitung und Klangwirkung aufgehoben wird. Doch nicht unbedingt für alle Fälle. Jederzeit zu billigen ist eine Folge von einer reinen und einer verminderten Quint auf- und abwärts, wenn die zweite Quint die verminderte ist (Beispiel 11a). Der Fortschritt von einer voranstehenden verminderten Quint zu einer folgenden reinen erscheint jedoch nur dann unbedenklich, wenn er um eine Stufe abwärts erfolgt (10b), nicht aufwärts (10c). Zwar kommt auch diese Folge oft vor, doch behält die aufwärtsgehende Auflösung eines verminderten Intervalles jederzeit etwas Gezwängtes, weil seiner natürlichen Neigung, abwärts zu resolvieren, widersprochen wird.
B III. Fortschreitung von einer vollkommenen Konsonanz zu einer unvollkommenen kann in allen drei Bewegungsarten, sowohl in der Gegen- und Seitenbewegung als auch in der Parallelbewegung stattfinden, mit der einzigen Ausnahme, dass man im strengen zweistimmigen Kontrapunkt den Sprung beider Stimmen aus einem Einklang auch in eine unvollkommene Konsonanz in gerader Bewegung vermeiden soll, (siehe Kontrapunkt, Beispiel 3b).
B IV. Fortschreitung von einer unvollkommenen Konsonanz zu einer anderen unvollkommenen kann in den meisten Fällen in allen drei Bewegungsarten statt haben und ist nur durch folgende, in sehr vielen Fällen jedoch von der Praxis unbeachtet bleibende Ausnahmen beschränkt: Zwei Stimmen dürfen nicht in großen Terzen in gerader Bewegung miteinander fortschreiten; diese Folge ist fehlerhaft, sowohl wenn die Stimmen stufenweise sich fortbewegen, als auch wenn sie einen Terzensprung aufwärts machen (Beispiel 12a, 12b). Unter 12a stehen die beiden Töne f-h einander gegenüber und bilden das sogenannte mi contra fa nach der Sprache der Solmisation (siehe dort), die übermäßige Quarte, den aus drei ganzen Tönen bestehenden Tritonus. Diese Terzenfortschreitung ist zweistimmig durchaus, im mehrstimmigen Satze in den Oberstimmen verboten. Die entstehende Spannung des übermäßigen Quartenschrittes wird aufgehoben, wenn das f liegen bleibt (12c). Auch wird der stufenweise und eine große Terz aufwärts springende Fortschritt zweier kleinen Sexten (12d), deren querüberstehende Glieder ebenfalls eine übermäßige Quarte bilden, zuweilen untersagt. Doch hat wenigstens die stufenweise Fortschreitung nichts Bedenkliches, eher noch die terzenweise springende (12e). Diese wie auch die anderen voranstehenden Beispiele werden unter die unharmonischen Fortschreitungen gerechnet, wovon mit Einschluss fernerer dahingehöriger Fälle in dem Artikel Querstand gehandelt ist.
C. Auflösung der Dissonanzen. Der Begriff der Dissonanz ist im Artikel Konsonanz und Dissonanz auseinandergesetzt. Unter Auflösung versteht man ihren stufenweisen Fortschritt in ein konsonierendes Intervall, wodurch das zusammengesetztere Verhältnis der Dissonanz zu einem einfacheren der Konsonanz ausgeglichen wird(3). Durch den Eintritt der Dissonanz wird die Ruhe und Geschlossenheit vollkommener konsonierender Dreiklangsfortschreitungen unterbrochen, aber auch zugleich ein anregendes Element neuer Bewegung hineingebracht. Mit der Auflösung tritt die Ruhe und Befriedigung der konsonierenden Harmonie wieder ein. Der Auflösung aber bedarf die Dissonanz, weil sie unselbständig ist und nicht für sich allein gelten kann, sondern jederzeit an die Folge, in regulärem Eintritt auch an die Voraussetzung einer Konsonanz gebunden ist.
Die regulär gebrauchten Dissonanzen, das heißt solche die, ehe sie auf einer akzentuierten Taktzeit Dissonanzen werden, in der vorhergehenden akzentlosen Taktzeit schon als Konsonanzen sich haben hören lassen, müssen in der wieder darauf folgenden schlechten Taktzeit, nach Beschaffenheit des dissonierenden Intervalles, eine Stufe auf- oder abwärts in eine Konsonanz fortschreiten(4). So muss unter anderen in dem folgenden Beispiel 13 der Ton c, der durch den Basston d zur dissonierenden Septime wird, eine Stufe abwärts in den Ton h (der unter a eine Terz, unter b eine Quint und unter c eine Sext gegen den Bass ausmacht) sich auflösen.
Hieraus ersieht man, dass zwar die Auflösung in eine Konsonanz erfolgt, dass aber dieses konsonierende Intervall durch den Schritt bestimmt wird, den die Gegenstimme gegen den Auflösungston macht. Wir unterscheiden harmonische Dissonanzen von melodischen und rechnen zu den ersteren nur diejenigen, welche nicht auf bloß melodischem Wege (zufällig) durch Liegenbleiben oder Fortschreiten einzelner Stimmen entstehen, sondern den dissonanten Bestandteil wirklich harmonisch dissonierender Akkorde (siehe Akkord) ausmachen. Also die Septime im Septimenakkorde und die verminderte Quint im verminderten Dreiklang samt ihren Umkehrungen, vorausgesetzt dass auch sie nicht bloße Vorhalte sind, wie unter Umständen der Fall. Melodische Dissonanzen sind die Vorhalte, Wechselnoten, diatonischen und chromatischen Durchgänge von einer Melodiestufe zur anderen; mithin auch die durch Alteration dissonierend gewordenen Intervalle der alterierten Akkorde (siehe Akkord), wie die übermäßige Quinte im übermäßigen Dreiklang (c-e-gis), die verminderte Quinte und Terz im hartverminderten Dreiklang (h-dis-f) und im doppeltverminderten Dreiklang (dis-f-a), mit allen ihren Umkehrungen. Die meisten harmonischen und melodischen Dissonanzen haben die gleiche Art der Auflösung, regulär abwärts, miteinander gemein, die übermäßigen Intervalle treten eine Stufe aufwärts. Die dissonierenden diatonischen Durchgänge sind in ihrer Auflösung von der Stellung abhängig, welche die harmonischen Noten, denen sie als melodische Vermittlung dienen, gegeneinander einnehmen. Demnach können sie aufwärts [und] auch abwärts resolvieren. Außerdem unterscheiden sie sich von den regulären Dissonanzen noch dadurch, dass sie ohne Vorbereitung auf akzentlosem Taktglied erscheinen und auf akzentuiertem Taktglied sich auflösen. In welche Intervalle jede besondere Gattung der Dissonanzen sowohl auf gewöhnliche als außergewöhnliche Art aufgelöst zu werden pflegt, ist in den besonderen Artikeln eines jeden dissonierenden Intervalles sowie unter Vorhalt, durchgehende Noten, Wechselnoten etc. auseinandergesetzt.
Literatur: Speziell über das Quint- und Oktavverbot kann mau vergleichen: Zarlino, Istituzioni armoniche 1572, Cap. XXIX; versucht zuerst eine Begründung des Quintverbotes, und zwar durch die Zahlen- Verhältnisse; andere Theoretiker sind ihm hierin gefolgt, in neuester Zeit Zamminer, die Musik und musikal. Instrum., Giessen 1855, S. 163. - Marpurg, Anmerk. zu Sorge's Anleit. z. Generalb. (1760), S. 75-86. - Türk, Anw. zum Generalbasssspielen (Halle und Leipzig 1800), S. 75ff. - Sulzer, Theorie der schönen Künste (Leipzig 1793), Bd. III., Art. Quinten. - Hauptmann, die Natur der Harmonik und Metrik, Leipzig 1853, S. 70. - Außerdem in den Lehrbüchern von Fux (Gradus ad Parnassum), Kirnberger (Kunst des reinen Satzes), André, Richter etc. - Fink, ein Aufsatz in der Cäcilia, Bd. 12, S. 75: Über das Erlaubte und Unerlaubte der Quintenfolgen (ohne erheblichen Werth). - A. W. Ambros, zur Lehre vom Quintenverbote, Leipzig, Heinrich Matthes (ohne Jahr); recht interessant, wenngleich den darin ausgesprochenen Ansichten hier keineswegs immer beigepflichtet werden kann. - J. C. Lobe, Vereinfachte Harmonielehre für Dilettanten und für Kenner, Leipzig 1861, S. 166ff. Das [auf] Seite 168 angeführte Beispiel aus der H-Moll-Fuge von Bach (siehe [folgendes Notenbeispiel]) ist keine offenbare Oktave (höchstens eine im Durchgang nachschlagende) und noch weniger ein Beweis dafür, dass offenbare Oktaven bei Bach sehr oft vorkämen, wie der Verfasser an vielen Stellen des wohltemperierten Klavieres zu zeigen sich erbietet.
1 "Debemus etiam binas consonantias perfectas seriatim conjunctas ascendendo vel descendendo, prout possumus, evitare."
2 Über die konsonierende und dissonierende Quarte, siehe unter Quarte.
3 Die Notwendigkeit der Auflösung der Dissonanzen in die nächstgelegene Konsonanz kannten schon Marchettus und Johannes de Muris, Anfangs des 14. Jahrhunderts. Doch haben sie nur die durchgehende, noch nicht die vorbereitete Dissonanz. Diese wie auch der Vorhalt finden sich, ganz regulär gebunden, auf gutem Taktteil dissonierend und auf dem nächstfolgenden schlechten aufgelöst, wohl erst etwas später.
4 Dass die Auflösung der Dissonanz hin und wieder nicht nur unterbrochen oder hinausgeschoben, sondern sogar ganz aufgehoben werden kann, ändert diese Regel nicht. Näheres darüber siehe Vorhalt; Septime, Beispiel 2; Ellipsis. Das Übernehmen der Septimenauflösung durch eine andere Stimme, siehe Verwechselung der Auflösung.
[Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 314ff]