Formen, musikalische (1929)

Formen, musikalische. Keine Kunst kann der Form entbehren, die nichts anderes ist als der Zusammenschluss der Teile des Kunstwerks zum einheitlichen Ganzen. Die oberste Forderung für alle Formgebung, auch die musikalische, ist Einheit. Diese kommt aber erst zur vollen Entfaltung ihrer ästhetischen Wirkung am Gegensätzlichen, am Kontrast und Widerspruch (Konflikt). Einheit in der speziell musikalischen Gestaltung tritt uns entgegen im konsonanten Akkord, in der Ausprägung einer Tonart, dem Festhalten einer Taktart, eines Rhythmus, in der Wiederkehr rhythmisch-melodischer Motive, der Bildung und Wiederkehr prägnanter Themen; Kontrast und Konflikt im Harmoniewechsel, der Dissonanz, Modulation, der Gegenüberstellung und dem In-Beziehung-Setzen verschiedener Rhythmen oder Motive im Charakter gegensätzlicher Themen. Der Kontrast muss in einer höheren Einheit aufgehoben, der Konflikt gelöst werden, d. h. die Akkordfolge muss eine Tonalität (Tonart) ausprägen oder im weiteren Sinne auf ein Klangzentrum beziehbar sein, die Modulation muss sich um eine Haupttonart bewegen und zu ihr zurückführen, die Dissonanz muss sich auflösen, aus den Wirren der Durchführungsteile müssen die Themen wieder heraustreten usw.

So ergeben sich die Gesetze für die spezifisch-musikalische Gestaltung aus allgemeinen ästhetischen Prinzipien. Innerhalb der dadurch vorgeschriebenen Normen sind jedoch vielfache Bildungen möglich. Die gebräuchlichsten Formen in Bezug auf die Gruppierung der Themen sind:

1) Sätze mit Festhaltung eines einzigen Themas (Motivs): Etüden, Bagatellen, Tanzstücke, auch imitierende Sätze wie z. B. Bachs Inventionen. Sind solche Stücke zweiteilig (mit Reprisen), so führt regelmäßig der erste Teil zu einer anderen Tonart (Dominante, Parallele u. a.), und der zweite Teil beginnt in dieser und führt zur Haupttonart zurück; sind sie dreiteilig, so können der erste und letzte Teil in der Haupttonart stehen und nur der mittlere durch die fremde Tonart kontrastieren, jedenfalls aber wird der Mittelteil Ganzschlüsse in der Haupttonart meiden. Auch in Fugensätzen ohne solche Abteilungen wird die Modulation in der Mitte die Haupttonart verlassen und diese am Ende wieder festsetzen, so dass zum mindesten tonartlich ein A-B-A fühlbar ist. Ohne eigentliche Entwicklung ist die Form bei Variationen über ein Thema: Da indessen gewöhnlich das Thema selbst die Form A-B-A. wenn auch nur tonartlich, aufweist, so ergibt sich eine rondoartige Kettenbildung.

2) Sätze mit refrainartig mehrmals wiederkehrenden Hauptgedanken (Ritornell), der durch immer neue Zwischenglieder (Episoden, Couplets) abgelöst wird; bleibt dabei der Hauptgedanke in der Haupttonart, so entsteht eine Art Kettenbildung A-B1-A-B2-A-B3-A…, bei der die Episoden (B) in ihrer Gesamtheit einen Gegensatz gegen den Hauptgedanken bilden, so z. B. in den Rondeaux bei Couperin. (Die Balladen und Rondeaux - Tanzlieder - des 14. und 15. Jahrhunderts bringen nur textlich immer neue Zwischenglieder, die Musik besteht aus nur 2 Teilen, die fortgesetzt wechseln.) Natürlich können aber einzelne der Episoden zueinander in Beziehung treten, indem eine als Umbildung, veränderte Wiederholung der anderen erscheint, und das Ganze an Einheitlichkeit gewinnt. Wandert das Ritornell selbst durch verschiedene Tonarten, so dass nur am Schluss der Hauptgedanke wieder in der Haupttonart steht, so entsteht eine Form, welche im 18. Jahrhundert für die Konzerte (s. d.) vor Mozart die allgemein übliche war.

3) Sätze mit zwei oder mehr im Charakter deutlich unterschiedenen Themen können sich aus der unter 1) beschriebenen Form in der Weise entwickeln, dass mit der Erreichung der Nebentonart ein neuer, charakteristisch unterschiedener thematischer Gedanke eingeführt wird. In Sätzen ohne Reprisen kann sich dieses zweite Thema einfach als Mittelglied (B) zwischen den beginnenden und endenden Vortrag des Hauptgedankens einschieben (thematisches A-B-A, Liedform im engeren Sinne). In Sätzen mit Reprisen tritt das zweite Thema vor der Reprise in der Dominante oder Parallele usw. ein, nach der Reprise beginnt dann in dieser fremden Tonart wieder der Hauptgedanke und lenkt zur Haupttonart zurück, in welcher am Schluss das zweite Thema abschließend wiederholt wird (Form A-B:|: Ab Ba embryonale Sonatenform, schon bei Corelli). Mehrgliedrige rondoartige Bildungen können sich ähnlich gestalten, z. B. ABAb CBc ABa oder ABAb CAc Ba A u. dgl. Nur dimensionale Weitungen der Form A-B-A entstehen durch innerliche Gliederung jedes der drei Teile nach demselben Prinzip A (aba) B(aba) A(aba), wobei aber das eine oder andere Glied gelegentlich verkümmert (erweiterte Liedform).

4) Die höchstentwickelten Formen entstehen durch Einführung des Begriffs der Durchführung, d. h. der andersartigen Verwertung des motivischen Materials vorher aufgestellter Themen in einem kontrastierenden mittleren Teile: A Thementeil, B Durchführung, A Wiederkehr der Themen. Die vollentwickelte sogenannte Sonatenform, die sich gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts vornehmlich in Italien, Mannheim, Wien ausbildet, bringt in dieser aus der Liedform hervorgegangenen Ordnung vor der Reprise nach dem 1. Thema ein 2. Thema in einer Nebentonart (mit epilogisierenden Anhängen mehr oder minder selbständiger Haltung; vgl. Epilog), nach der Reprise ein buntes Spiel mit Motiven beider Themen unter Berührung weiterer Nebentonarten und sodann nach der Rückmodulation zur Haupttonart das 1. Thema und (nunmehr ohne Modulation) anschließend ebenfalls in der Haupttonart das 2. Thema:

Formen (Einstein 1929)

Formen (Einstein 1929)

Auch Mischungen aller dieser Formen sind natürlich ebenso gut möglich, z. B. die Einführung eines dritten Themas inmitten der Durchführung oder in rondoartigen Formen die Einführung kleiner Durchführungen an mehreren Stellen.

5) In ähnlicher Weise bilden mehrsätzige Werke zyklische Formen. Sie werden aus Sätzen verschiedenen Charakters, verschiedener Tonart und Taktart zusammengesetzt, z. B. (L = Langsam, S = Schnell):

Formen (Einstein 1929)

Formen (Einstein 1929)

(Das Abschließen mit einem langsamen Satz ist seltener; eine ausgezeichnete Wirkung erzielt damit z. B. Beethoven in der E-Dur-Sonate op. 109, Schumann in seiner Fantasie C-Dur op. 17, auch Tschaikowsky in der Symphonie pathétique):

Formen (Einstein 1929)

Formen (Einstein 1929)

Durch die Anwendung dieser einsätzigen oder zyklischen abstrakten Formen auf die nach Zahl und Art der beschäftigten Instrumente, nach Zweck und Stilart, Zusammenwirken mit anderen Künsten usw. verschiedenen Musikgattungen entstehen nun viele konkrete Formen, deren Name schon eine bestimmte Vorstellung erweckt, z. B. für die reine Instrumentalmusik: Tanz, Etüde, Präludium, Phantasiestück, Fuge, Toccata, Suite, Sonate, Quartett, Serenade, Konzert, Ouvertüre, Sinfonie; für Vokalmusik: Lied, Arie, Motette, Messe, Requiem, Kantate, Oratorium, Oper, Passion usw. (siehe die betreffenden Artikel). Vgl. die Kompositionslehren von Marx, Sechter, Lobe, Skuhersky, Jadassohn, Prout, St. Krehl, Leichtentritt (Musikalische Formenlehre, 3. Aufl. 1927); Karl Blessinger (Grundzüge der musikalischen Formenlehre, 1926); Riemann, auch des letzteren Katechismus der Kompositionslehre (1. Teil: Reine Formenlehre, 2. Teil: Angewandte Formenlehre), in welchem besonders der Aufbau im kleinen zum ersten Male ausführlich behandelt ist. Vgl. Hermann Erpf, Der Begriff der musikalischen Form (Leipziger Dissertation 1914). [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 526ff]