Musiklexikon: Was bedeutet Adagio?

Adagio (Dommer 1865)

Was bedeutet der Fachbegriff "Adagio" in der Musik? Erläuterungen von namhaften Musikwissenschaftlern des 18. und 19. Jahrhunderts, zum Beispiel von Johann Gottfried Walther im ersten deutschsprachigen Musiklexikon von 1732, von Heinrich Christoph Koch (1802), aus dem umfangreichen Musikalischen Conversations-Lexikon (1870) oder vom berühmten Musikologen Hugo Riemann (1882):

Adagio (1882)

Adagio (sprich adáhdscho), eine der ältesten Tempobezeichnungen, die schon zu Anfang des 17. Jahrhunderts vorkommt; adagio bedeutet im Italienischen: bequem, behaglich, hat aber für die Musik im Lauf der Zeit die Bedeutung von langsam, ja sehr langsam (aber nicht so langsam wie largo) erhalten. Die Bezeichnung adagio kommt sowohl innerhalb eines Tonstücks für wenige Noten wie auch zu Anfang eines Satzes als Tempobezeichnung für dessen ganze Dauer vor, so dass man jetzt gewöhnlich unter einem Adagio einen ganzen Satz einer Sonate, Symphonie oder eines Quartetts etc. versteht. Gewöhnlich ist das Adagio der zweite Satz, doch sind Ausnahmen nicht selten (neunte Symphonie von Beethoven, Waldsymphonie von Raff u. a.); man nennt einen solchen Satz auch dann ein Adagio, wenn er einen bewegteren Teil (andante, più mosso u. dgl.) enthält.

Der Superlativ adagissimo (nicht adagiosissimo), "äußerst langsam", ist selten. Die Diminutivform adagietto bedeutet: ziemlich langsam, d. h. nicht so langsam wie adagio. Als Überschrift kennzeichnet sie ein langsames Sätzchen von kurzer Dauer (kleines Adagio). Vergleiche Tempo. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 7]

Adagio (1865)

Adagio.

  1. Vortragsbezeichnung, mäßig langsam
  2. als Substantiv gebraucht, das Adagio, ein Tonstück von dieser Bewegungsart, entweder als zweiter oder dritter Satz der Sinfonie oder Sonate (siehe Sonate), oder als selbständiger Tonsatz im Wesentlichen die nämlichen Formen einhaltend.

Mit ebenso viel Schwierigkeiten, wie die Komposition eines guten Adagio, ist auch der Vortrag desselben verknüpft. Denn die langsame Bewegung lässt jeden Zug, der entweder an sich nicht hinlänglich bedeutend ist oder weniger zum ganzen Charakter des Tonsatzes passt, bei weitem merklicher hervortreten als eine schnelle. Außerdem kann ein langsamer Satz leicht übertrieben breit, schwerfällig und, wenn nicht genügende Gedankenfülle vorhanden ist, sehr langweilig werden. Ganz dasselbe gilt von der Ausführung, die übrigens neben dem langsamen Zeitmaße, im Allgemeinen und wenn nicht andere Bestimmungen gegeben sind, einen durchaus getragenen und gesangreichen Vortrag verlangt. Unerlässlich ist ein großer, bedeutender, dabei aber durchaus biegsamer Ton, der jede auch noch so feine innere Bewegung auszudrücken vermag. Mit dünnem und spitzigem Striche oder Anschlage wird man im Adagio ebenso wenig ausrichten als mit Steifheit der Bogenführung. Ferner eine durchaus feine Nuancierung der Stärke und Schwäche, damit alle Innerlichkeit der Melodie, soweit sie durch dynamische Modifikation sich kundgeben kann, zur Geltung komme, außerdem aber auch der Vortrag farbenreich und abwechselnd werde. Denn der Ausführende läuft im Adagio ebenso leicht Gefahr, den Hörer zu ermüden, wie der Komponist.

In früheren Zeiten suchte man durch Manieren und Veränderungen des Gesanges vor etwaigem Langweiligwerden sich zu schützen, verfiel dadurch aber nur aus einem Fehler in den anderen, indem solcher Aufputz den Charakter des Adagio beeinträchtigt. "Koloraturen im Adagio sind Unsinn, so sehr die Mode auch diesen Unsinn autorisiert. Man glaubt, ruhende Tasten durch Schnörkel beseelen zu können; aber Schnörkel beseelen nicht" etc. bemerkt Schubart (Aesthetik S. 293).

Es ist kein Zweifel, dass der Vortrag desselben vor allem anderen einen vollkommenen Musiker verlangt, der ebenso mannigfaltig und belebt an Klang und Ausdruck wie einfach, ernst und gesund darzustellen weiß, was er ebenso tief wie natürlich empfindet. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 20f]

Adagio (1879)

Adagio (ital.), langsam, gedehnt, gemäßigt, sanft, mit Bequemlichkeit; in der Musik eine Bewegung, die langsamer als lento (siehe dort), also zwischen larghetto und andantino steht.

Adagio bezeichnet aber auch eine eigene Art von Kompositionen. Diese drücken zärtliche, traurige, rührende Empfindungen aus. Sie haben daher einen sehr gemessenen, langsamen Gang mit Hinweglassung alles Gekünstelten; daher zu schroffe, zu kühne Modulationen wegfallen, dagegen sehr nahe verwandte Harmonien, enharmonischer Tonwechsel, eintreten müssen. Das Schmelzende, Leidenschaftliche in dem Adagio gestattet daher auch nur Kürze des Tonstücks, nie Dehnung, was Langeweile erregen und somit zur Vernichtung des ganzen gewonnenen Eindrucks führen könnte. Beim Vortrag des Adagios sind daher alle Manieren, Verzierungen zu vermeiden, dagegen ist ein recht inniges Verbinden, Verschmelzen, Tragen der gut akzentuierten Töne zu erstreben.

In den größeren Werken der Instrumental- und Kammermusik findet sich gewöhnlich der zweite und dritte Satz mit diesem Namen (Adagio) bezeichnet. Er dient als notwendiger Kontrast gegen die rasche und stürmische Bewegung der ihm vorausgehenden und folgenden Sätze. Es muss, wie vorhin gesagt, das Adagio in einer schweren, langen Taktart geschrieben sein, teils um singbare, empfundene Kantilenen zu schaffen, teils um einer lebhaften Figuration Raum zu gönnen. Diese lebhafte Bewegung in kleinen begleitenden Figuren ist aber darum nötig, weil ein fortgesetztes ruhiges Einherschreiten Eintönigkeit erzeugen würde.

Der gute und richtig empfundene Vortrag eines Adagios ist der sicherste Prüfstein der Leistungen des Musikers und Sängers. Es muss hier alles zusammenwirken, schöner vollendeter Ton, richtiges Verstehen der Kantilene bis in ihre kleinsten Phrasen, sorgfältiges Abmessen der dynamischen Effekte. [Riewe Handwörterbuch 1879, 8f]

Adagio (1840)

Adagio, Ad°, langsam, ist unter den fünf Hauptgraden der musikalischen Bewegung der zweite und steht zwischen dem Larghetto und Andantino. Auch die Benennung des in dieser Bewegung auszuführenden Satzes.

Der Charakter des Adagio ist getragener Gesang, Ausdruck tiefer Empfindung. Der Vortrag, durch den Charakter des Tonstücks selbst bedingt, erfordert Haltung, Schmelz und Zartheit der Töne, sowie feine Nuancierung in Stärke und Schwäche des Tones. Die wunderbarsten, herrlichsten Adagios enthalten unstreitig Beethovens Meisterwerke. [Gathy Encyklopädie Musik-Wissenschaft 1840, 6f]

Adagio (1870)

Adagio (ital.), bedeutet als Tempobezeichnung langsam - und zwar weniger langsam als Largo, mehr langsam als Andante. Als Substantivum gebraucht, bezeichnet Adagio ein langsames, zumeist zartgehaltenes Tonstück, welches in der Regel als zweiter oder dritter Satz der Sinfonie oder Sonate, sonst aber auch abgeschlossen und selbstständig auftritt. Demgemäß ist es auch zunächst von Komponisten als Ausdruck trauriger, milder, elegischer Stimmungen in Erfindung und Bearbeitung der Themen zu behandeln. Als Kontrast der feurigeren, schnelleren Sätze, zwischen denen es seine Stelle einnimmt, ist es am zweckmäßigsten in einer breiten Taktart zu halten, welche Gelegenheit zu empfundener schöner Cantilene [sic] gibt und zugleich Raum für eine lebhaftere Figuration schafft, deren das Adagio zur Vermeidung der Einförmigkeit nicht ganz entbehren kann. Alle diese Erfordernisse aber legen dem Tonsetzer Schwierigkeiten auf, deren Überwindung nur der technischen Gewandheit, gepaart mit durchdrungener Wahrheit, möglich ist; Kenntnis des Seelenlebens, Herzens- und Lebenserfahrung müssen die komponierende Feder führen. Blässe des Gedankens und Ideenarmut treten in keiner Gattung unverhüllter zu Tage, und darum ist das Adagio der beste Probierstein für den Wert eines Komponisten, nicht minder aber auch für die Ausführenden. Denn die langsame Bewegung, für die zunächst das angemessene Zeitmaß nicht leicht zu finden ist, lässt jeden einzelnen Zug augenfälliger hervortreten, als eine schnelle, in welcher das Unpassende und Unrichtige, kaum gehört, schon verdrängt wird. Der Vortrag erfordert eine ganze Fülle äußerlicher und innerlicher Eigenschaften, wie großen, breiten, dabei aber gleichwohl biegsamen Ton, den Ausdruck tiefer Empfindung, klare Auseinandersetzung der Tongruppen bis in die kleinsten Phrasen und Nuancen hinein, richtige Abwägung der dynamischen Verhältnisse, dabei zugleich innere Wärme, Lebendigkeit der Phantasie und poetische Reproduktionskraft. Alles muss zusammengreifen, um den Hörer an den überall drohenden Klippen der Monotonie sicher und geschickt vorbeizuführen und vor Ermüdung zu bewahren.

Es ist übrigens ein eigentümliches, nicht erfreuliches Zeichen der Zeit [um 1870], welches jedenfalls auf einen tieferen Zusammenhang zurückzuführen ist, dass die Gegenwart sowohl in der Komposition wie in der Wiedergabe des Adagios hinter der vergangenen Zeit entschieden zurücksteht. Einem solchen Verluste gegenüber dürften viele der neuesten Errungenschaften bedeutend an Gewicht und Wert verlieren. [Mendel Musikalisches Lexikon 1870, 31]

Adagio (1732)

Adagio, oder abgekürzt: adago und ado, (ital.) ist ein aus dem Articulo Dativi a und dem Worte agio zusammengesetztes Adverbium und heisset: gemächlich, langsam; dass aber nicht a agio sondern adagio gebraucht und das d dazwischen gesetzt wird, geschiehet Wohllauts halber.
Adagio adagio oder adagissimo, sehr langsam.
Adagio à la Francese, langsam auf französische Art. [Walther Musicalisches Lexicon 1732, 9]

Adagio (1802)

Adagio, (ital.) mäßig langsam. Wenn wir die Natur unserer Empfindungen betrachten, finden wir, dass sich die Äußerungen sanfter, zärtlicher oder trauriger Empfindungen gern bei ihrem Gegenstande verweilen, gern alles dasjenige, was nur einige Verbindung mit ihnen hat, mit sich in Beziehung bringen, und dass also dasjenige, was man Modifikation der Empfindung nennt, dabei langsam und mit Verweilen vonstatten geht. Bei freudigen oder heftigen Empfindungen hingegen äußert sich ein gewisses Bestreben, alles was darauf Beziehung hat, gleichsam auf einmal darzustellen; sie verweilen sich daher bei keinem Gegenstande, der mit ihnen in Verbindung steht, sondern eilen von dem einem zu dem anderen, so dass eine Modifikation derselben gleichsam die andere verdrängt. Sieht man bei diesem Gegenstande tiefer ins Detail, so zeigt es sich, dass jede verschiedene Empfindung dieses Verweilen oder Forteilen in einem ihr ganz eigenen Grade äußert. Schon aus diesem flüchtigen Blicke auf die Äußerungen unserer Empfindungen sieht man, dass es der Natur der Sache angemessen ist, dass man bei dem Ausdrucke der Empfindungen durch Töne auf diese Eigenschaften der Empfindungen Rücksicht nehmen muss, und dass man sanfte oder traurige Empfindungen nicht durch schnell dahin eilende, freudige oder heftige Empfindungen hingegen nicht durch langsam fortschreitende Töne ausdrücken kann.

Um nun den Ausführern der Tonstücke teils die denselben angemessene Bewegung des Zeitmaßes, teils auch den Charakter und die in denselben auszudrückenden Empfindungen kennbar zu machen, nach welchen sich der Vortrag richten muss, bedienen sich die Tonsetzer zu Anfange eines jeden besondern Satzes der Tonstücke gewisser italienischer Wörter und Überschriften, die so beschaffen sind, dass sie entweder bloß die Bewegung des Zeitmaßes oder bloß die Vortragsart oder auch beides zugleich bezeichnen. Im ersten Falle, wenn sich der Tonsetzer einer solchen Überschrift bedient, die bloß die Geschwindigkeit der Bewegung bezeichnet, wie z. B. Largo (langsam) oder Allegro (hurtig), so muss der Ausführer nach Anleitung der vorgeschriebenen Bewegung, hauptsächlich aber aus dem Inhalte des Stückes selbst, die Art der Empfindung zu entdecken suchen, die in demselben ausgedrückt ist, um seinen Vortrag darnach einzurichten. Zeigt hingegen der Tonsetzer durch die Überschrift bloß die Art des Vortrages an, wie zum Beispiel bei den Ausdrücken cantabile (singend), dolce (sanft oder süß), scherzando (scherzhaft) usw., so verhält es sich für den Ausführer umgekehrt, denn in diesem Falle muss er von den Charakter des Tonstücks auf die demselben angemessenste Bewegung schließen und diese jenem anzupassen suchen. Beide Fälle setzen einen gebildeten Geschmack und viel Erfahrung voraus, und es ist, wie man oft fälschlich glaubt, keine Kleinigkeit, dasjenige Zeitmaß zu treffen, in welchem ein Tonstück seine beste Wirkung tut. Aber auch im dritten Falle, wenn der Tonsetzer durch die Überschrift sowohl das Zeitmaß als auch die Vortragsart bezeichnet, wie z. B. in den Ausdrücken allegro maestoso (hurtig und mit erhabenem oder majestätischem Vortrage), adagio con tenerezza (langsam mit Zärtlichkeit) usw., bleibt es immer noch mit einigen Schwierigkeiten verbunden, das richtige Zeitmaß zu treffen, wenn man nicht schon den ganzen Inhalt des Tonstückes genau kennt.

Diejenigen Ausdrücke, womit man die verschiedenen Grade der Geschwindigkeit des Zeitmaßes und die verschiedenen Arten des Vortrages bezeichnet, findet man in der Folge unter ihren eigenen Artikeln angezeigt. Hier aber muss, weil sich hierzu die Gelegenheit zum ersten Mal ereignet, noch bemerkt werden, dass man anjetzt [um 1800] gewohnt ist, die verschiedenen Grade der Geschwindigkeit, in welchen die verschiedenen Sätze der Tonstücke ausgeübt werden, in fünf Hauptgrade einzuteilen, die von dem langsamen bis zum geschwinden Grade in folgender Ordnung aufeinander folgen:

  1. Largo, langsam,
  2. Adagio, mäßig langsam,
  3. Andante (gehend), bezeichnet einen ruhigen und abgemessenen Schritt, der zwischen dem Geschwinden und Langsamen das Mittel hält,
  4. Allegro, hurtig, und
  5. Presto, geschwind.

Alle übrige, das Zeitmaß bezeichnende Ausdrücke kommen mit einem von diesen Graden nur mit geringer Abweichung überein.

Das Adagio erfordert eine vorzüglich gute Ausführung, teils wegen der langsamen Bewegung, durch welchen jeder Zug, welcher der vorhandenen Empfindung nicht entspricht, merklich wird, teils deswegen, weil es, wenn es nicht unterhaltend und anziehend genug vorgetragen wird, ins Langweilige und Ekelhafte fällt.

Es ist schwer, allgemeine Regeln für den Vortrag jeder Art der Tonstücke festzusetzen, weil der Vortrag mehr Gegenstand der Empfindung als der Beschreibung, mehr Gegenstand des Genies als des Unterrichts ist. Indessen ist doch so viel gewiss, dass das Adagio mit sehr feinen Nuancierungen der Stärke und Schwäche des Tones sowie überhaupt mit einem sehr merklichen Zusammenschmelzen der Töne vorgetragen werden muss. "Dass sehr viel zum guten Vortrage des Adagio erforderlich sein müsse", sagt Baumbach, "wird niemand daher in Zweifel ziehen, weil die Anzahl der Eingeweihten für dieses Fach so gar geringe, und derer, die an selbigem scheitern, so gar groß ist. Durch einfache Noten seinem Komponisten und dem Zwecke dr Sache Genüge leisten, wäre vielleicht im Allgemeinen ein Fingerzeig für den ausübenden Tonkünstler in Rücksicht auf das Adagio. Sollen einfache Noten aber wirken, so erfordert ihre Bildung langes und anhaltendes Studium, und ihre vorzüglichen Eigenschaften sind Festigkeit, Haltung (portamento di voce), Biegsamkeit, Gleichheit usw."

Einer der größten Fehler wider den guten Vortrag des Adagio ist es, wenn der Ausführer das Unterhaltende des Vortrags durch Überhäufung der Manieren [Verzierungen] und Veränderungen der Melodie zu erlangen sucht, denn dadurch geht der eigentliche Charakter des Stücks verloren. Es scheint überhaupt eine ganz richtige Bemerkung zu sein, dass man den Grad der Ausbildung eines Tonkünstlers nach seinem Vortrage des Adagio beurteilen könne.

Noch ist zu bemerken, dass man das Wort Adagio, so wie es schon verschiedene mal in diesem Artikel geschehen ist, auch als Substantiv braucht und damit ein Tonstück bezeichnet, welches in diesem Grade der Bewegung vorgetragen wird. [Koch Musikalisches Lexikon 1802, 62ff]