Musiklexikon: Was bedeutet Neumen?

Neumen (1882)

Neumen, eine Art stenografischer Notenschrift, in welcher das Gregorianische Antiphonar und überhaupt der gesamte kirchliche Ritualgesang bis in die neueste Zeit hinein notiert wurde.

Der Ursprung der Neumen ist unbekannt, wird aber wohl italisch gewesen sein (Nota romana). Die älteste bekannte Form der Neumen (aus dem 9. Jahrhundert) sieht einer modernen sprachlichen Stenographie täuschend ähnlich (siehe nachfolgende Beispiele I bis III). Im Lauf der Jahrhunderte vergröberten und verdickten sich die Züge der Neumen zu nagel- und hufeisenartigen Gestalten. Verschiedenerlei Versuche wurden gemacht, der Unbestimmtheit der Neumenschrift, über welche bereits die Schriftsteller des 9. Jahrhundert klagen, abzuhelfen. So schrieb man über die Neumen Tonbuchstaben (siehe Buchstabentonschrift) oder auch die Intervallzeichen des Hermannus Contractus (siehe dort). Im 10. Jahrhundert fing man an, die Tonhöhenbedeutung der Neumen durch Linien zu fixieren. Die zuerst gebrauchte Linie war die f-Linie; ihr gesellte sich noch vor dem Jahr 1000 die c'-Linie; jene wurde rot, diese gelb gezeichnet. Nachdem Guido von Arezzo das Liniensystem vervollkommnet und seine noch heute übliche Anwendung geregelt hatte, schwand der letzte Rest von Undeutlichkeit der Tonhöhenbedeutung (Beispiel IV). Zugleich aber entwickelte sich die sogenannte Nota quadrata oder quadriquarta, die viereckige Note (siehe Choralnote), welche nun überwiegend die Neumen verdrängte (Beispiel V).

Neumen (Riemann 1882)

Neumen

Eine vollständige Entzifferung der Neumen ohne Linien ist wahrscheinlich nicht möglich, weil sie nach den Zeugnissen frühmittelalterlicher Schriftsteller mehr ein Hilfsmittel für das Gedächtnis als eine genaue Notierung waren. Daher nannte man sie auch usus – man musste die Gesänge kennen, die man aus einer Neumennotierung ablesen wollte.

Die Elemente der Neumenschrift waren:

  1. die Zeichen für eine einzelne Note: Virga (Virgula) und Punctus (Punctum);
  2. das Zeichen für ein steigendes Intervall: Pes (Podatus);
  3. das Zeichen für ein fallendes Intervall: Clinis (Flexa);
  4. einige Zeichen für besondere Vortragsmanieren: Tremula (Bebung); Quilisma (Triller), Plica (Doppelschlag) etc. Die übrigen sind entweder Synonymen der hier genannten oder Kombinationen derselben, zum Beispiel Gnomo, Epiphonus, Cephalicus, Oriscus, Ancus, Tramea, Sinuosa, Strophicus, Bivirga, Trivirga, Distropha, Semivocalis etc.
Neumen (Riemann 1882)

Neumen, Zeichen für Vortragsmanieren

Über Neumen haben in neuerer Zeit [aus Sicht des 19. Jahrhundert] gearbeitet: Lambillotte, Coussemaker, A. Schubiger und H. Riemann. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 628f]

Neumen (1840)

Neumen [sind] die in frühester Zeit gebräuchlichen, in alten Choralbüchern noch vorfindlichen Tonzeichen. Sie bestanden aus Akzenten, Punkten, Häkchen, Strichelchen und Schnörkeln, welche dem Sänger durch ihre Stellung über den Textworten die Tonhöhe und durch ihre Gestalt auch die Inflexion, das Steigen oder Fallen der Stimme, versinnlichen sollten. Ein wesentlicher Mangel dabei war die Unsicherheit der Bezeichnung, die ganz unvermeidlich grobe Irrtümer von Seiten der Sänger nach sich ziehen musste. Im neunten oder zehnten Jahrhundert wurde diesem Übelstande einigermaßen abgeholfen, indem man quer über die Zeile des Textes eine Linie zog und die Neumen in, über und unter dieselbe setzte. Eine größere Bestimmtheit erhielt die Schrift späterhin durch Hinzufügung einer zweiten Linie; die erste, rot gemalt, bedeutete zugleich den F-, die zweite darüber, gelb, den C-Schlüssel; die Zwischentöne wurden nach dem Augenmaße durch Höhe und Tiefe angedeutet.

Diese von Guido vorgefundene Neumenschrift verbesserte er dahin, dass er noch eine Linie unter F und eine zwischen rot F und gelb C zog und diese vier Linien sowohl als auch die Zwischenräume benutzen lehrte. Dies Liniensystem, in welchem jeder Ton seinen bestimmten Platz erhielt, wurde später bei Einführung der Notenschrift beibehalten. [Gathy Encyklopädie Musik-Wissenschaft 1840, 326f]