Musiklexikon: Was bedeutet Neumen?

Neumen (1882)

Neumen, eine Art stenografischer Notenschrift, in welcher das Gregorianische Antiphonar und überhaupt der gesamte kirchliche Ritualgesang bis in die neueste Zeit hinein notiert wurde.

Der Ursprung der Neumen ist unbekannt, wird aber wohl italisch gewesen sein (Nota romana). Die älteste bekannte Form der Neumen (aus dem 9. Jahrhundert) sieht einer modernen sprachlichen Stenographie täuschend ähnlich (siehe nachfolgende Beispiele I bis III). Im Lauf der Jahrhunderte vergröberten und verdickten sich die Züge der Neumen zu nagel- und hufeisenartigen Gestalten. Verschiedenerlei Versuche wurden gemacht, der Unbestimmtheit der Neumenschrift, über welche bereits die Schriftsteller des 9. Jahrhundert klagen, abzuhelfen. So schrieb man über die Neumen Tonbuchstaben (siehe Buchstabentonschrift) oder auch die Intervallzeichen des Hermannus Contractus (siehe dort). Im 10. Jahrhundert fing man an, die Tonhöhenbedeutung der Neumen durch Linien zu fixieren. Die zuerst gebrauchte Linie war die f-Linie; ihr gesellte sich noch vor dem Jahr 1000 die c'-Linie; jene wurde rot, diese gelb gezeichnet. Nachdem Guido von Arezzo das Liniensystem vervollkommnet und seine noch heute übliche Anwendung geregelt hatte, schwand der letzte Rest von Undeutlichkeit der Tonhöhenbedeutung (Beispiel IV). Zugleich aber entwickelte sich die sogenannte Nota quadrata oder quadriquarta, die viereckige Note (siehe Choralnote), welche nun überwiegend die Neumen verdrängte (Beispiel V).

Neumen (Riemann 1882)

Neumen

Eine vollständige Entzifferung der Neumen ohne Linien ist wahrscheinlich nicht möglich, weil sie nach den Zeugnissen frühmittelalterlicher Schriftsteller mehr ein Hilfsmittel für das Gedächtnis als eine genaue Notierung waren. Daher nannte man sie auch usus – man musste die Gesänge kennen, die man aus einer Neumennotierung ablesen wollte.

Die Elemente der Neumenschrift waren:

  1. die Zeichen für eine einzelne Note: Virga (Virgula) und Punctus (Punctum);
  2. das Zeichen für ein steigendes Intervall: Pes (Podatus);
  3. das Zeichen für ein fallendes Intervall: Clinis (Flexa);
  4. einige Zeichen für besondere Vortragsmanieren: Tremula (Bebung); Quilisma (Triller), Plica (Doppelschlag) etc. Die übrigen sind entweder Synonymen der hier genannten oder Kombinationen derselben, zum Beispiel Gnomo, Epiphonus, Cephalicus, Oriscus, Ancus, Tramea, Sinuosa, Strophicus, Bivirga, Trivirga, Distropha, Semivocalis etc.
Neumen (Riemann 1882)

Neumen, Zeichen für Vortragsmanieren

Über Neumen haben in neuerer Zeit [aus Sicht des 19. Jahrhundert] gearbeitet: Lambillotte, Coussemaker, A. Schubiger und H. Riemann. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 628f]

Neumen, neuma, pneuma (1882)

Neumen (von νεῦμα [neuma], der Wink, nach anderen von πνεῦμα [pneuma], der Hauch) wurde früher in mehrfacher Bedeutung gebraucht: als Bezeichnung für gewisse Tonphrasen, die auf dem letzten Vokal eines Wortes gesungen wurden und zugleich auch für die Tonzeichen, mit denen die Gesänge notiert wurden.

Mit der Einführung des Christentums in den verschiedenen Ländern, unter den Völkern verschiedener Zungen, wurde auch die neue Weise des Gesanges, die sich unter dem Einflusse der christlichen Welt- und Lebensanschauung namentlich in Rom seit Gregor d. Gr. schon zu reicher Blüte entwickelt hatte, verbreitet. Allein diese Völker mussten meist erst zu dieser neuen Art zu singen erzogen werden. Es war zunächst geradezu notwendig, sie von der Beteiligung beim Kultusgesang auszuschließen, nicht nur weil die ihnen unbekannte römische oder lateinische Sprache bei diesem ausschließlich zur Anwendung kam, sondern weil ihnen die neue Art des Gesanges meist ganz ungewohnt sein musste. Jedoch war die Kirche zugleich früh bemüht, das Volk zu diesem Gesang zu erziehen und so wurden jene Neumen - als Vokalisen - zunächst kurze melodische Tonphrasen auf die Vokale a-e-i-o-u im Kirchengesang üblich, welche an das vom Volke gesungene "Kyrie eleison" und "AIleluja" anknüpfen, an denen das Volk die Stimme aussang, die dann in ihrer Erweiterung zu wirklichen Ergüssen religiöser Begeisterung wurden (longus. sonus jubilationes) und aus denen die Sequenzen - kirchliche Gesänge - sich entwickelten (siehe dort).

Diese selbständige Entwickelung des Gesanges machte dann weiterhin das Bedürfnis einer eigentümlichen selbständigen Notenschrift rege und aus diesem ging zunächst die Neumenschrift hervor. Die Fizierung der Töne durch Buchstaben, wie sie aus der griechischen Musikpraxis in die christliche übergegangen war, stellte jeden einzelnen Ton fest, aber sie gab kein Bild von dem Gange der Melodie, von ihrem Steigen oder Fallen, von ihrer Bewegung nach oben oder unten. Es war nicht nur Rücksicht auf das Gedächtnis des Sängers und die Sorge um die Erhaltung und Verbreitung der Gesänge, welche die neue Notenschrift erzeugte, denn diesem allen genügten die Buchstaben vollkommen; sondern der melodische Zug war so bedeutsam geworden, dass man diesen mit zu fixieren bemüht war und hierbei zunächst selbst die Deutlichkeit und Sicherheit der antiken Notenzeichen aufgab. Ganz natürlich verging eine lange Zeit, ehe hierin nur einige Übereinstimmung erreicht wurde. Die Sänger und Tonlehrer verfuhren dabei gewiss Jahrhunderte hindurch mit größter Freiheit, da wohl kaum einer unter ihnen von der Idee, eine allgemeine Notenschrift auch nur anbahnen zu helfen, geleitet wurde. Jeder einzelne Lehrer war nur darauf bedacht, die betreffenden Gesänge für sich und seine Schüler, oder das Kloster und die Kirche, denen er diente, zu notieren, unbekümmert um die Bedürfnisse anderer Kirchen, Schulen und Klöster.

Dennoch wurden eine Reihe dieser Tonzeichen allmählich von der Gesamtheit angenommen und erreichten Allgemeingültigkeit, wenn auch einzelne unter ihnen noch verschiedene Deutungen zulassen. Am frühesten gewannen die beiden einfachsten Grundformen (simplex neuma) allgemeine Gültigkeit, der Punctus oder Punctum als Zeichen für die Kürze und die Virga als Zeichen Tür die Länge. Diese beiden Zeitwerte behielt bekanntlich auch der Cantus planus bei und es erscheint ebenso sinnreich wie natürlich, dass sie in der angegebenen Weise notiert wurden. Die Virga wurde sowohl stehend wie liegend angewendet, um den Gang der Melodie zu bezeichnen. Die Wiederholung eines Tones wurde selbstverständlich durch Wiederholung desselben Zeichens angedeutet, und zwar auf gleicher Höhe. Stand der zweite Punkt tiefer, so wurde mit ihm ein tieferer Ton angedeutet. So waren mit diesen beiden Zeichen schon eine Reihe von Tonfiguren zu fixieren.

Mit der wachsenden Zahl der Gesangfiguren wuchsen auch die verschiedenen Notenzeichen, und dies führte zu Verwirrungen, die man durch verschiedene Hilfsmittel zu beseitigen suchte. Namentlich machte die Bestimmung der Tonhöhe große Schwierigkeiten und Romanus, ein Sänger aus der römischen Schule, der im 8. Jahrhundert nach St. Gallen kam, führte deshalb Buchstaben ein, mit denen er die Neumen näher zu bezeichnen suchte. Weit praktischer war das einfache Verfahren, durch eine, später durch zwei Linien die Stellung dieser Notenzeichen sicherer zu bestimmen. Man zog eine rote Linie quer über die Seite, welche den Ton f bezeichnete und alle Neumen, die über der Linie standen, waren höher; tiefer alle unter derselben verzeichneten. Später wurde dann noch die Oberdominante c durch eine zweite, meist gelbe Linie bezeichnet. Damit war natürlich schon für die Deutlichkeit und Sicherheit der Neumenschrift außerordentlich viel gewonnen; der Zwischenraum von der unteren F-Linie bis zur oberen C-Linie barg eben nur die Tonstufen g, a, b, die nunmehr leichter durch ihre Stellung anzudeuten waren. Guido von Arezzo zog dann noch zwei Linien, die er ungefärbt ließ, so dass nun durch die vier Linien, eine gelbe, eine rote und zwei ungefärbte, die Stellung der Neumen und damit die Höhe der Töne genau bezeichnet werden konnte. Die beiden farbigen Linien vertraten unsere C- und F-Schlüssel, die sich aus der Bezeichnung ganz naturgemäß entwickelten. [Reissmann Handlexikon 1882, 315ff]

Neumen (1865)

Neumen, Neumenschrift, Neuma, Neoma, Neupma, Nota romana - die älteste bekannte Tonschrift der christlich-abendländischen Kirche. Ihr erster Ursprung ist völlig dunkel, man weiß nur mit Gewissheit, dass schon Gregor d. Gr. (Papst von 591-604) mit Neumen notiert hat. Die noch heutzutage in Bibliotheken vorhandenen, im 9., 10. und 11. Jahrhundert von Gregors Antiphonar entweder unmittelbar oder mittelbar genommenen Abschriften, sind alle in neumatischer Tonschrift verzeichnet.(1) Griechischen Ursprungs, wie man längere Zeit glaubte, ist die Neumenschrift keineswegs. Als ganz selbständige Notation hat sie ebenso wenig Ähnlichkeit mit der griechischen Buchstaben-Tonschrift und mit den mehrfach versuchten gleichzeitigen Buchstabennotierungen, als mit der späteren Nota quadrata Cantus plani (Choralnote) oder den Mensuralnoten des 13. Jahrhunderts und unserer heutigen Zeit, wenngleich demungeachtet, und weit eher noch als in allen Buchstabennotationen, in der Neumenschrift die ersten Grundformen der späteren wirklichen Notenschriften sich auffinden lassen.

Das Wort Neuma (pneuma, Hauch) kommt unter zwei Bedeutungen vor. Man verstand darunter
1) gewisse melodische Sätze oder Melismen, welche auf dem letzten Vokal eines Wortes gesungen wurden.(2) Manchmal war ein solches Neuma ziemlich ausgedehnt, so dass der Vortrag nur mit vollem Atem oder wiederholtem Atemnehmen möglich wurde. Solche melismatische Sätze fanden ihre Stelle besonders beim Alleluia zu den Gradualien, dann auch bei den Responsorien zur Matutin der höchsten Feiertage,(3) als ein Ausdruck feierlich freudig gehobener Gefühlsstimmung (jubilos, jubilationes), welche zu ihrer Kundgebung nicht das Wort aufsucht, sondern unmittelbar in freier Melodie sich ergießt,(4) ähnlich unserer Koloratur, deren erster Ursprung sowie im weiteren der Ursprung aller freien Gesangmelodie überhaupt auf das Neuma des Gregorianischen Gesanges sich zurückführen lässt.

2) Dann sind Neumen auch die Tonzeichen, womit ein Gesang notiert wurde. Die Neumenschrift ist jene uralte, von Gregor dem Großen schon gebrauchte Tonschrift, welche durch verschiedene Wandlungen hindurch und mit verschiedenen anderen Notierungsversuchen (mit Buchstaben, Punkten und zwischen Linien aufgeschichteten Textsilben) gleichzeitig und an ihnen vorüber, in liturgischen Büchern der abendländischen Kirche bis ins 14. Jahrhundert hinein und noch später, als hauptsächlich sanktionierte Notation sich erhielt. Neumare oder neumatizare heißt ebenso wohl einen Text mit Melodie versehen, komponieren, als auch einen Gesang aufschreiben, notieren.

Die Tonzeichen der Neumenschrift, zusammengesetzt aus Punkten, Strichen, Häckchen und Halbkreisen, hatten ihre eigene Form, Benennung und Bedeutung und versinnlichten Hebung, Senkung und Beugung der Melodie; jedoch nur im Allgemeinen, ohne den bestimmten Ton, also ohne etwa c, d, e etc. zu bedeuten. Die Vermutung, dass sie aus den Akzenten der gewöhnlichen Schrift entstanden seien, ist öfter (u. a. auch von Schubiger, a. a. O. S. 6; desgleichen von Coussemaker, Hist. de l'harm. du moyen âge, S. 158ff) ausgesprochen und hat in der Tat viel Grund für sich. Denn wie die Akzente in sprachlicher Hinsicht, so veranschaulichten die Neumen in musikalischer Beziehung dem Auge das Steigen, Fallen und die Beugung der Stimme; der Accentus acutus als Arsis, der gravis als Thesis und der circumflexus als Vereinigung von Arsis und Thesis, erscheinen als Grundformen des Neumensystemes. Gleich dem acutus deutet das neumatisch gleichgeformte Tonzeichen Virga das Steigen der Stimme an; der neumatische Punkt (liegende Virga), ähnlich dem gravis geformt, das Fallen; und endlich die Clinis, ähnlich dem circumflexus, anfängliches Steigen und wieder Sinkenlassen; oder in umgekehrter Form (podatus), anfängliches Sinken und dann Steigen der Stimme. Auf diese Grundformen lässt die ganze Neumenschrift sich zurückfuhren, die meisten der übrigen Tonzeichen sind nur aus verschiedenartigen Zusammenstellungen der genannten hervorgegangen. Schubiger, a. a. O. Monumenta 2, führt in der Tabella Neumarum (secundum varia manuscripla medii aevi) deren 28 an, und zwar in alter Form, ohne Linien, vor dem 11. Jahrhundert; mit Linien, Zwischenräumen und Schlüssel aus dem 11. und 12. Jahrhundert und in Choralnoten und in moderne Noten übertragen. Ferner gibt Lambillotte in dem unter Literatur angeführten Werke Erklärungen. Man hat die Entzifferung und Erklärung der Neumenschrift [um 1865] neuerdings mehrfach versucht. Doch bleibt eine klare Einsicht in den Kunstcharakter der damit notierten Gesänge, mithin auch eine deutliche Erkenntnis der ganzen Kunstperiode, immerhin so lange verschlossen, bis man für die Richtigkeit der Entzifferungen eine festere Gewähr gefunden hat und die Gesänge selbst einem allgemeineren Urteil zugänglich geworden sind.

Anfänglich, bis ins 9. und 10. Jahrhundert, wurden die Neumen ohne Linien über den Text des Gesanges geschrieben, nachher führte man eine Linie ein, welche als Schlüssel diente, indem man sie F oder c benannte und die übrigen Tonzeichen darauf, darüber und darunter setzte. Alsdann kam eine zweite Linie hinzu: die untere, rot gefärbt , galt F, die obere, gelb oder grün, galt c, und zwischen beiden notierte man G, A und B. Allmählich wurden auch Zwischenlinien gezogen, und Guido von Arezzo soll zuerst, nicht wie vordem, die Linien oder Zwischenräume allein, sondern beide zugleich verwendet, also das Liniensystem vervollkommnet haben. Doch hat es geraume Zeit gedauert, bis man die Linien, mit Ausnahme der als Schlüssel dienenden und somit die Tonart kennzeichnenden, deutlich zu ziehen sich gewöhnte. Auch noch im 11. Jahrhundert und später kommen Neumen ohne alle Linien vor. Die Einführung von Linien war als ein großer Fortschritt anzusehen, denn vor Gebrauch derselben ließ sich die Tonhöhe und Intervallenweite nur sehr schwer und keineswegs mit Gewissheit bestimmen. Bei manchen Figuren vermochte der Sänger wohl durch den Anblick zu erkennen, ob der folgende Ton höher oder tiefer sei, gelangte er jedoch an ein anderes Tonzeichen, so geriet er in Ungewissheit. In Betreff dieser Unsicherheit und Mehrdeutigkeit der Neumen heißt es auch u. a. in einem durch Gerbert (Scriptores II. 230) mitgeteilten Traktat von Cottonius aus dem 12. Jahrhundert (S. 258), dass selten drei Sänger in Betreff der Ausführung eines Gesanges gleicher Meinung seien; der Eine sänge da eine kleine Terz oder Quart, wo der Andere eine große Terz oder Quint nähme, während ein Dritter wiederum von beiden abwiche; und wenn jener auf seinen Meister Trudo sich beziehe, so dieser auf den Meister Albinus, während der Dritte behaupte, dass sein Lehrer Salomon ganz anders sänge. Deshalb mussten beinahe so viele verschiedene Singarten wie Lehrer entstehen, wenn jeder seinem Lehrer den Vorzug gibt. So kann man annehmen, der hauptsächliche Zweck der Neumen sei nur der gewesen, dem Gedächtnis des Sängers beim Behalten allgemein bekannter Melodien mittels einiger sicheren Zeichen zu Hilfe zu kommen. Nur in einzelnen Fällen war dem Sänger das zu singende Intervall bestimmter erkennbar gemacht, so die Töne F und c durch die Zeichen der Bivirga und Trivirga, der Bistropha und Tristropha. Wo diese Zeichen vorkommen, wurde entweder F oder c gesungen.

Der römische Sänger Romanus, welcher um 790 mit einer authentischen Abschrift vom Gregorianischen Antiphonar nach St. Gallen kam,(5) fügte der Neumenschrift verdeutlichende Buchstaben bei, von denen jeder seine besondere Bedeutung hatte. Notker Balbulus (starb 912) hat diese Roman'schen Buchstaben im Laufe des 9. Jahrhunderts erklärt.(6) Sie bezogen sich jedoch weniger auf Höhe und Tiefe der Töne und Weite der Tonschritte, als auf den Vortrag, und bedeuten Erhebung der Stimme, schnelleren oder gemäßigten Vortrag mehrerer Noten, Wiederholung desselben Tones, Vortrag mit starker Stimme, Aspiration, Beugung auf- oder abwärts etc. Notker führt deren 23 an, mit beigefügten Erklärungen. Ähnlichem Zwecke dienen auch ausgeschriebene, in der Bedeutung mit den Buchstaben übereinkommende Worte, welche Romanus zur näheren Verdeutlichung des Gesanges anwendete (incipe jusum, beginne tief; altius, höher; inferius, tiefer). Sollte ein Buchstabe für mehrere Tonzeichen gelten, so wurde nicht selten ein Querstrich, ähnlich wie bei der Bezifferung unserer Generalbassschrift, vom Buchstaben aus über die betreffenden Noten geführt. Bezogen sich nun auch einzelne der Buchstaben des Roman auf die allgemeine Tonbewegung, so war dadurch doch, wie bemerkt, keineswegs und ebenso wenig wie durch die Neumen selbst, bestimmte Höhe, Tiefe und Entfernung der Töne gegeben, sie hatten also von der Buchstabennotation des Hucbald (aus dem F der lateinischen Schrift gebildet, für die 18 Töne des damaligen Tonsystemes)(7) und ebenso von der des Hermanus Contractus(8) ganz verschiedene Geltung; denn diese bezeichneten bestimmte Höhe und Tiefe der Töne, folglich die Entfernungen der zu singenden Intervalle, ließen aber Eigentümlichkeiten des Vortrags gänzlich unberücksichtigt, dienten auch nicht zum kirchlichen Gebrauch, sondern nur in den Singschulen, um die Melodien in richtigen Tonverhältnissen einzuüben.

Die Tonart, aus welcher der Gesang vorzutragen war, ließ sich ebenfalls aus der neumatischen Notation nicht jederzeit deutlich erkennen. War sie entweder durch gewisse Buchstaben angegeben oder durch die neumatische Notation selbst erkennbar ausgedrückt, so hatte der Sänger einen Anhaltspunkt für die Tonhöhe, indem er alsdann wenigstens den letzten Ton des Stückes mit Gewissheit zu erfahren vermochte. Die Buchstaben, durch deren Beisetzung das sonst oft sehr schwierige Herausfinden der Tonart erleichtert wurde (a e i o s H y ω für den I. bis VIII. Kirchenton), gebrauchte die St. Galler Schule in frühester Zeit nur bei den Antiphonen der Vesper und der kanonischen Stunden, später auch bei Hymnen, Sequenzen u. a. Beim Introitus und der Kommunion zum Offertorium der Messe war die Tonart auf andere Weise kenntlich gemacht, indem nämlich die neumatische Bezeichnung der Psalmodie, welche einem jeden der auf den Introitus (vor Alters auf die Kommunion) folgenden Psalmenverse beigegeben war, dem Sänger zugleich die Tonart des vorangehenden Stückes angab, da der Psalmenvers mit der vorangehenden Antiphon gleichen Ton hatte, so dass also dem Sänger die Tonart der Antiphon in der des Psalmenverses mitgegeben war. Die Tonart des Psalmenverses aber vermochte der Sänger aus dessen neumatisch notierter Melodie zu erkennen, indem jede Tonart eine eigentümliche Melodie und Bezeichnung hatte. War z. B. das erste Tonzeichen ein Podatus, so hatte der Sänger einen sichern Anhalt, dass die Melodie der VI. Tonart angehörte, weil keine andere Psalmenweise mit diesem Tonzeichen begann.

Länge und Kürze der musikalischen Töne war endlich nur durch die prosodische Silbenquantität bedingt, die musikalische Metrik damaliger Zeit von der poetischen durchaus abhängig. Wie den Vers in Versfüße, so teilte man den Gesang in Distinktionen (Neumengruppen), die Distinktion in Neumen, und das Neuma bestand wiederum aus einem oder mehreren Tönen. Die Distinktion entsprach einem Vers, das Neuma dem metrischen Fuß und der Ton einer Silbe; dem Spondäus entsprachen die Tonzeichen aus zwei langen Noten, dem Trochäus und Jambus die aus einer langen und einer kurzen bestehenden musikalischen Zeichen. Im Allgemeinen galten (bis ins 13. Jahrhundert hinein) nur einfach lange und kurze Zeitwerte, die Länge doppelt so lang als die Kürze. Mannigfaltigere Notenwerte kamen erst mit der Mensuraltheorie in Gebrauch - oder viel mehr, die Mensuraltheorie war eine Folge der in Anwendung kommenden verschiedenen Notenwerte. Doch wenngleich die alte musikalische Proportionslehre von den Gesetzen der metrischen Skansion abhängig war, so wird doch das Gefühl des Sängers manche Vortragsfreiheit sich gestattet haben. Übrigens bediente sich der römische Cantus planus in seinen liturgischen Büchern auch noch der Neumen, nachdem die Mensuralnoten schon lange erfunden waren. Erst spät im 14. Jahrhundert ist die Nota quadrata allgemein an
ihre Stelle getreten.

Schriften und Beispiele von Neumen: Coussemaker, Histoire de l'Harmonie au moyen âge, Paris 1852, mit Beispielen vom 9. Jahrhundert an. Lambillotte, Antiphonar de St. Gregoire, 1851. B. A. Schubiger, Die Sängerschule St. Gallens, Einsiedeln 1858, mit Erklärungen der Neumen und Roman'schen Buchstaben sowie mit zahlreichen Monumenten. In Pater Martini Storia della Musica, Bd. I, Beispiele aus dem 9. und 10. Jahrhundert. Bei Gerbert, De Cantu et musica sacra. Ferner bei Burney, Geschichte, Bd. II. Forkel, Geschichte, Bd. II. Kiesewetter, Leben und Wirken des Guido von Arezzo, Leipzig 1840; und Geschichte der europäisch-abendländischen Musik, Leipzig 1846. S. W. Dehn, Theoretisch practische Harmonielehre, Berlin 1860. Eine kostbare Neumenhandschrift von Regino von Prüm (starb 915) besitzt die Leipziger Stadtbibliothek; die einleitende Epistola de Harmonia Institutione ist in Gerbert Scriptores, Bd. I, S. 230-247, abgedruckt.

1 Über Gregors Tonschrift siehe u. a. einen Aufsatz von Kiesewetter in der Leipziger Allgemeinen Musikzeitung, 1827 (Nr. 25, 26, 27).
2 Joannis Tinctoris Term. Mus. Diffin. (um 1477; in den Jahrb. f. mus. Wissensch. von Chrysander abgedruckt und übersetzt von Bellermann): Neoma est cantus fini verborum sine verbis annexus. Ähnlich Franchinus Gafor: Neuma est vocum seu notalorum unica respiratione congrue pronunciandarum aggregatio.
3 Vgl. B. A. Schubiger, Die Sängerschule St. Gallens, Einsiedeln 1858
4 Vgl. auch Antony, Lehrbuch des Gregorianischen Kirchengesanges, 1829, S. 26.
5 Von der eine Kopie, wahrscheinlich aus dem 9. oder 10. Jahrhundert, noch gegenwärtig [um 1865] daselbst sich befindet.
6 Seine Epistel darüber an den Mönch Lantgart ist in Gerbert, Scriptores… (St. Blasien 1784), T. I, S. 95-102, abgedruckt.
7 Gerbert, Scriptores…, Hucbaldi musica enchiriadis, Bd. I, S. 152ff.
8 Hermanni Contracti (1013-1054) opuscula musica, Gerbert, Scriptores…, Bd. II, S. 125ff.
[Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 600ff]

Neumen (1840)

Neumen [sind] die in frühester Zeit gebräuchlichen, in alten Choralbüchern noch vorfindlichen Tonzeichen. Sie bestanden aus Akzenten, Punkten, Häkchen, Strichelchen und Schnörkeln, welche dem Sänger durch ihre Stellung über den Textworten die Tonhöhe und durch ihre Gestalt auch die Inflexion, das Steigen oder Fallen der Stimme, versinnlichen sollten. Ein wesentlicher Mangel dabei war die Unsicherheit der Bezeichnung, die ganz unvermeidlich grobe Irrtümer von Seiten der Sänger nach sich ziehen musste. Im neunten oder zehnten Jahrhundert wurde diesem Übelstande einigermaßen abgeholfen, indem man quer über die Zeile des Textes eine Linie zog und die Neumen in, über und unter dieselbe setzte. Eine größere Bestimmtheit erhielt die Schrift späterhin durch Hinzufügung einer zweiten Linie; die erste, rot gemalt, bedeutete zugleich den F-, die zweite darüber, gelb, den C-Schlüssel; die Zwischentöne wurden nach dem Augenmaße durch Höhe und Tiefe angedeutet.

Diese von Guido vorgefundene Neumenschrift verbesserte er dahin, dass er noch eine Linie unter F und eine zwischen rot F und gelb C zog und diese vier Linien sowohl als auch die Zwischenräume benutzen lehrte. Dies Liniensystem, in welchem jeder Ton seinen bestimmten Platz erhielt, wurde später bei Einführung der Notenschrift beibehalten. [Gathy Encyklopädie Musik-Wissenschaft 1840, 326f]