Discant [heutige Schreibweise: Diskant], Discantus [lateinisch].
a) Die höchste der vier Gattungen der menschlichen Stimme, italienisch: Soprano (super, sopra, oberwärts befindlich, Oberstimme), französisch: le Dessus. Knaben und Weibern natürlich eigen; in früheren Zeiten auch an Männern, aber auf naturwidrige Weise (durch Infibulation und Kastration) erzeugt. Im gleichen kann auch die männliche Stimme auf künstliche Art, durch Anwendung des Falsett, Sopranhöhe erreichen. Bis ins 16. Jahrhundert hinein bediente man sich der sogenannten Falsettisten als Ersatz für Frauen- und Knabenstimmen (siehe Falsett und Alti naturali). Auch diese Stimmengattung zerfällt in zwei Arten, in den hohen Diskant oder Sopran, Chorumfang von c1-a2, b2, h2 (Falsettisten etwa bis a2, Kastraten noch darüber); und in den tiefen Diskant, mezzo-soprano, bas-dessus, von a-e2, f2, an Umfang mit dem höheren Alt ziemlich übereinkommend, der Klangfarbe nach aber mehr dem Sopran sich anschließend. Individuelle Begabung erweitert die Tongrenzen beider Stimmenarten in einzelnen Fällen erheblich,(1) und in frühester Jugend reicht die Stimme überhaupt bedeutend höher hinauf. Doch gilt jener angegebene Umfang als der allgemeine, der im Chorgesang nicht überschritten werden darf. Die untersten Töne c1, d1 und auch noch e1 des hohen Sopran sind schwach und wirken wenig, die obersten a2, b2 hingegen bereits scharf (namentlich bei Knabenstimmen), unsicher und gewagt in der Intonation und schwer lange auszuhalten, deshalb soll man sie im Chor, wenn überhaupt, so nur mit äußerster Vorsicht und guter Vorbereitung verwenden, nur durch bequeme Intervalle sich hineinbewegen, alles unzuverlässige Hineinspringen vermeiden. In vielstimmigen und Doppelchören wird der Sopran gewöhnlich zweifach, auch noch mehrfach, in I., II., resp. III. Sopran, geteilt, ohne dass die tiefste Sopranstimme gerade durch Mezzosoprane besetzt zu werden braucht, die erste Stimme hält dann nur eine etwas höhere Lage ein, die übrigen etwas tiefere. Über Verwendung von Knaben- und weiblichen Stimmen im Chore siehe Chor.
Häufig findet man in älteren Werken die Oberstimme mit Cantus statt Discantus bezeichnet; doch ist letztere Benennung schon lange die gebräuchlichere, wie bereits Glarean (Dodecachordon, S. 240) bemerkt: "Vulgus crebrius Discuntum vocat, ut differat a communi nomine cantus" - um die Oberstimme von der gewöhnlichen Benennung Cantus (Gesang) zu unterscheiden.
Von allen Stimmgattungen klingt der Diskant am meisten durch und hat die leichteste Beweglichkeit und meiste Deutlichkeit in schnellen und glänzenden Passagen aller Art, doch wird schnelles Aussprechen von Worten auf den höchsten Tönen schwierig; benutzt man diese, so geschieht es am besten in Silbendehnungen und als Bindungen auf Vokalen. Übrigens verliert die Stimme in den höchsten Lagen an ausdrucksvoller Biegsamkeit und nimmt etwas Instrumentales an.
b) Ursprünglich ist das Wort Discantus, französisch: Déchant, soviel wie diversus cantus, ein gegen einen anderen geführter, von diesem verschiedener Gesang, Gegengesang, Kontrapunkt. Man verstand darunter einen mehrstimmigen, anfangs insbesondere zweistimmigen Satz - discantare oder, wie gleichfalls vorkommt, biscantare, heißt zweistimmig singen. Gegen einen gegebenen festen Gesang (Cantus), der Tenor genannt, wurde eine zweite Stimme, der Discantus oder diversus cantus, gesetzt. Es ist also dem Wesen nach dieselbe, wenn auch anfänglich noch sehr unvollkommene Setzart, für welche zu Ende des 14. oder anfangs des 15. Jahrhunderts die Benennung Kontrapunkt aufkam.
In frühester Zeit wurde der Discantus nur extemporiert, nicht aufgeschrieben, er beruhte nur auf Fertigkeit der Sänger und mag auf diese Art schon sehr früh ausgeübt worden sein, bis er allmählich bestimmteren Regeln unterworfen wurde. Bei manchen alten Schriftstellern finden sich Erklärungen. So in dem wahrscheinlich dem 13. Jahrhundert angehörenden Traktat Musica quadrata seu mensurata (Pseudo-Beda), welcher in den Werken des Beda venerabilis (Opp. Colon. Agripp. 1688, I. 351) steht und worin es heißt: "Tria tantummodo sunt genera, per quas tota mensurabilis musica transcurrit, scilicet discantus, hocetits et organum. Discantus vero est aliquorum diversorum generum cantus duarum vocum seu trium etc."
Franco von Köln, mus. et cant. mensur Kap. II. (Gerbert III. 2) sagt: "Discantus est aliorum diversorum cantuum consonantia, in qua illi diversi cantus per voces, longas, breves, vel semibreves proportionabiliter adaequantur, et in scripto per diversas figuras proportionari ad invicem designantur." Er gibt verschiedene Arten an: "alius simpliciter prolatus" (in Noten von gleichem Zeitwert); "alius truncatus (durch Pausen unterbrochen, an Notenwerten verkürzt), "qui ochetus dicitur" (siehe Hocetus); "alius copulatus" (gebunden), "qui copula nuncupatur". Kap. XI, XII und XIII handeln von diesen Arten des Discantus, aber in sehr dunkler und schwer verständlicher Weise (in Betreff des Discantus mit oder ohne Lyra oder mit mehreren Lyren, vergl. Kiesewetter, Gesch. 33 und 34 Anm.).
Anfangen kann die kontrapunktierende Stimme des Discantus im Einklang, in der Oktave, Quinte, Quarte, großen und kleinen Terz. Gehörigen Ortes sollen Dissonanzen unter die Konsonanzen gemischt werden, aber so, dass der Discantus fällt, wenn der Tenor steigt, und umgekehrt. Auch beschreibt er (Gerbert, a. a. O. S. 13) einen vier- und fünfstimmigen Discantus; bei Hinzufügung der neuen Stimmen soll auf die schon vorhandenen hinsichtlich der Kon- und Dissonanz Rücksicht genommen werden; die Stimmen sollen nicht alle zugleich steigen oder fallen und im Verhältnisse zueinander richtige Mensur einhalten. Tinctoris (term. mus. diff.) erklärt den Discantus für einen "cantum ex diversis vocibus et notis certi valoris aeditum", also für einen durch verschiedene Stimmen in Noten von gewissem Wert ausgeübten Gesang. Joannes de Muris zählt in den Quaestiones super part. mus. (zu Anfang des 14. Jahrhunderts) im Kap. de discantu et consonantiis (Gerbert III. 306) die Intervalle auf, "per quas omnis discantus planus ac melodiosus potest fieri". Es sind "unisonus", "semiditonus" (kleine Terz), "ditonus" (große Terz), "diapente" (Quint), "tonus integer et perfectus cum diapente (große Sexte) und "diapason" (Oktave). Dann gibt er ausführliche Stimmführungsregeln, unter welchen wir dem von ihm wahrscheinlich zuerst aufgestellten Verbote einer Folge von Einklängen, Oktaven und Quinten sowie des mi contra fa bereits begegnen.
Ein eigentümlicher dreistimmiger Discantus, in lauter Sextakkorden fortschreitend, Falso bordone (siehe dort) genannt, war im 13. Jahrhundert besonders in Frankreich heimisch, und eine andere Art improvisierten Discantus, gleichbedeutend mit dem, was man Contrappunto alla mente (non a penna, siehe dort) nannte, kannte man nicht nur im 13. Jahrhundert in Frankreich (Déchant, Contrepoint sur le champ), sondern auch schon weit früher in Italien. Es war ein gegen einen Cantus firmus extemporierter Kontrapunkt. Entweder gingen beide Stimmen meist miteinander im Einklang und trennten sich nur hie und da, die eine eine Stufe auf-, die andere ebenso viel abwärtssteigend, woraus dann Terzen entstanden, die aber sogleich wieder in den Einklang zurückkehrten. Oder die diskantisierende Stimme improvisierte gegen den Tenor allerhand Passagen, Figuren und Diminutionen, welche man Fleurettes nannte.
Dass solch ein Discantus aus dem Stegreif nicht gerade zu den Kunstgenüssen gehört haben kann, erhellt aus einer von Rousseau im Dictionn. de Mus. (s. Art. Discant ou Déchant) angeführten Stelle des Joannes de Muris.(2) Auch noch andere Schriftsteller kennzeichnen ihn als eine Verderbnis des echten Gesanges. Mehrere römische Bullen verboten seine Anwendung in der Kirche. Als im 14. oder 15. Jahrhundert die Benennung Kontrapunkt aufkam, diente der Name Discantus nur noch für solche mehrstimmigen Improvisationen, eben wie Contrappunto alla mente oder Sortisatio.
1 Die Sängerin Aloysia Weber erreichte mit Leichtigkeit a3 (Jahn, Mozart III. 280), die Catalani soll drei und eine halbe Oktave beherrscht haben, und der Kastrat Farinelli hatte einen Umfang von a-d2
2 "Heu! proh dolor! His temporibus aliqui suum defectum inepto proverbio colorare moliuntur. Iste est, inquiunt, novus discantandi modus, novis scilicet uti consonantiis. […]"
[Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 238ff]