Mensuralmusik, Mensuralgesang, Figuralmusik, Musica mensuralis sive figuralis, Canto misurato. Eine Musik, deren Töne, je nach den vorgeschriebenen Takt- und Tempuszeichen, bestimmt gemessene Zeitdauer haben und in gewissen verschiedenen Wertverhältnissen zueinander stehen - zum Unterschiede von der Musica plana, choralis, Choralmusik, deren Noten alle einerlei Zeitdauer haben.
Figuralis quae et mensuralis et nova dicitur, est quae in suis notis secundum signorum ac figurarum diversitatem, diversam habet sonorum mensuram. In ea namque notulae, juxta modi, temporis ac prolationis exigentiam, augentur ac minuuntur (Georg Rhau, Enchiridion utriusq. Mus. pract. 1538, Blatt 5).
Über die Choralmusik siehe das Nähere unter Choral, Gregorianischer Gesang etc. Neu nennt Rhau die Mensuralmusik, weil sie erst zu Anfang des 13. Jahrhunderts angefangen hat sich zu entwickeln, und die Musica plana ihr voraufgegangen war. Zwar hat schon der Ambrosianische Gesang sowie sein mutmaßliches Vorbild, der griechische oder hebräische Gesang, aus abwechselnden Längen und Kürzen bestanden, doch ohne dass man einen von beiden darum Mensuralgesang nennen dürfte. Denn Länge und Kürze des Tones waren nur durch die prosodische Länge und Kürze des Textes bestimmt, dem trochäischen Versfuß entsprechend, also weder selbständig musikalisch, noch auch in ähnlicher Weise nach bestimmten Zeitwerten gemessen wie die Noten der alten Mensural- und unserer heutigen Musik. Die Noten der Alten gaben, wie die Neumen des Cantus planus ebenfalls, auch nur Höhe und Tiefe der Töne an, ohne eine Zeitdauer derselben zu unterscheiden. Von einer älteren Mensuralmusik zu sprechen und dies auf den bloß metrischen Ambrosianischen und griechischen Gesang zu beziehen, ist daher ganz falsch.
Mensuralgesang entstand erst, als die Töne der Melodie hinsichtlich ihrer Zeitwerte von der Prosodie sich unabhängig zu machen anfingen, so dass auf eine metrisch lange Silbe eine kurze Note und umgekehrt, auf eine metrisch kurze Silbe auch eine lange Note zu stehen kommen konnte. Und ferner als man anfing mehrstimmig zu setzen, d. h. nicht bloß in Quinten, Quarten und Oktaven einförmig zu diaphonieren oder organisieren, sondern mit zweien oder mehreren Stimmen von einigermaßen selbständigem Tongang und Rhythmus gegeneinander zu kontrapunktieren, woraus denn eine bestimmte Mensur der Töne von selbst mit Notwendigkeit sich ergeben musste, indem sonst Konfusion und Disharmonie nicht ausbleiben konnten. Daher versteht man unter Mensuralmusik auch allezeit zugleich mehrstimmige Musik.
Der Ausdruck Figuralmusik ist mit Mensuralmusik gleichbedeutend. Als man anfing, die Töne bestimmt zu messen und die verschiedenen Zeitwerte durch die Form der Noten zu veranschaulichen, entstanden alsbald für die Teilungen der Längen in verschiedene Kürzen oberer und niederer Ordnungen entsprechende Modifikationen der Notengestalt. Von diesen Gestalten (figurae) der Notengattungen und von den aus Vermischung derselben entstehenden Zeitfiguren schreibt sich der Ausdruck Musica figuralis, Figuralmusik, her. Hiervon zu unterscheiden hat man übrigens das, was wir figurierten Gesang, figurierten Stil (Cantus figuratus) nennen. Denn dieser ist nur ein Gesang, in welchem die melodischen Hauptnoten in kleinere Teile (Figuren, Diminutionen) zerlegt sind, wodurch der Gesang bewegt und gefärbt wird, was beim eigentlichen Figuralgesang zwar auch stattfinden kann, aber noch nicht immer notwendigerweise der Fall zu sein braucht. Dass unsere heutige Musik ebenfalls Figural- oder Mensuralmusik ist, versteht sich von selbst, denn sie bedient sich verschiedener und durch verschiedene Tonzeichen ausgedrückter Notenwerte. Doch pflegt man jene beiden Ausdrücke insbesondere auf die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts anzuwenden, weil in diesem Zeiträume die künstliche [künstlerische] Behandlung der Mensur in voller Blüte stand. Was vorliegendes Werk hierüber zu bieten vermag, ist im folgenden Artikel Mensuralnotenschrift enthalten. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 547]