Musiklexikon: Was bedeutet Mensuralmusik?

Mensuralmusik (1882)

Mensuralmusik ist eigentlich alle mit bestimmten Zeichen für die Dauer der Töne aufgezeichnete Musik. Im Besonderen versteht man aber darunter die Notierungen aus der Zeit seit Erfindung der Mensuralnote (siehe dort) bis zur Einführung des Taktstrichs und zum Verschwinden der Ligaturen (siehe dort), weil bei diesen dieselben Noten je nach der durch das Taktvorzeichen bestimmten Mensur ganz verschiedene relative Werte haben konnte.

Die Glanzzeit der Mensuralmusik ist die Zeit der Niederländer (siehe dort) sowie ihrer deutschen und italienischen Zeitgenossen Heinrich Isaak, Ludwig Senfl, Palestrina, A. und Joh. Gabrieli etc. Besondere Verdienste um die Geschichtsschreibung der Mensuralmusik haben Fétis ("Biographie universelle") und A. W. Ambros (im 2. und 3. Band seiner "Musikgeschichte"). Das Studium ihrer Theorie und älteren Praxis ist wesentlich erleichtert worden durch die Arbeiten und Sammelwerke Coussemakers. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 574]

Mensuralmusik (1877)

Mensuralmusik, Mensuralgesang, Figuralmusik, Musica mensurabilis sive figuralis, Canto misurato. Wie oben erwähnt [unter Mensur], bezeichnet man damit die Musik, bei welcher die Töne verschiedenen Zeitwert haben, der ihnen nach einem vorher fest bestimmten Zeitmaß zuerteilt wird, zum Unterschied von der Musica plana, dem Cantus choralis der Choralmusik, bei welchem die Töne einerlei Geltung haben.

Zwar kannte gewiss der ambrosianische Gesang im vierten Jahrhundert, wie der Gesang der Hebräer und Griechenden, Wechsel von Tönen mit verschiedenem Zeitwert, allein dieser wurde nur durch die sprachliche Rhythmik bedingt, war an die Prosodie gebunden. Auch der gregorianische Cantus planus, der sich von der Prosodie lossagte und zu selbstständiger melodischer Entfaltung gelangte, behielt die zur Darstellung der Länge und Kürze notwendigen zwei Notenzeitwerte bei, um bei den metrisch gegliederten Gesängen die Zeilenschlüsse auszuzeichnen. Aber sonst sind seine Melodien aus Tönen von gleichem Wert zusammengesetzt, und nur die vorletzte Silbe erhielt häufig eine doppelzeitige Note, um die Zeilenschlüsse zu markieren. So lange der gregorianische Gesang einstimmig geübt wurde, bedurfte er keine strengere Messung. Daher genügte auch zur Aufzeichnung dieser Melodien die Notenschrift, welche schon ein äußeres Bild vom Gang derselben gab, die sogenannten Neumen (siehe dort). Als aber die Mehrstimmigkeit sich zu entwickeln begann und als seit dem 12. Jahrhundert schon der Hauptstimme, welche die Choralmelodie als "Tenor" führte, sich eine zweite, später eine dritte und vierte mit selbstständig mensuriertem Gesang gegenüberstellten, da wurde es absolut notwendig, den Zeitwert der Töne einer jeden Stimme genau zu bestimmen, und so entstand die Mensuralnotenschrift - als das natürliche Produkt der ganzen Entwicklung.

Figuralmusik wurde diese neue Art des Gesanges wohl weniger deshalb genannt, weil die Notengattungen durch verschiedene Figuren dargestellt wurden, denn dann könnte auch der Cantus planus so heißen, die Neumen sind ja gleichfalls Figuren, wenn auch andere; sondern deshalb, weil er nicht ein ebener, Cantus planus ist, sondern ein figurierter, Cantus figuralis. Denn das ist ja das wesentlichste Unterscheidungsmerkmal desselben, dass er dem gleichmäßig dahin ziehenden Choral reicher figurierten Gesang entgegenstellt. Unsere moderne Musik ist in diesem Sinne Figural- und Mensuralmusik, aber dennoch bezeichnet man nur die entsprechende Musik des 14. bis 16. Jahrhunderts damit, die dort als besondende Gattung eingehende Pflege gewann. [Mendel/Reissmann Musikalisches Lexikon 1877, 128]

Mensuralmusik (1865)

Mensuralmusik, Mensuralgesang, Figuralmusik, Musica mensuralis sive figuralis, Canto misurato. Eine Musik, deren Töne, je nach den vorgeschriebenen Takt- und Tempuszeichen, bestimmt gemessene Zeitdauer haben und in gewissen verschiedenen Wertverhältnissen zueinander stehen - zum Unterschiede von der Musica plana, choralis, Choralmusik, deren Noten alle einerlei Zeitdauer haben.

Figuralis quae et mensuralis et nova dicitur, est quae in suis notis secundum signorum ac figurarum diversitatem, diversam habet sonorum mensuram. In ea namque notulae, juxta modi, temporis ac prolationis exigentiam, augentur ac minuuntur (Georg Rhau, Enchiridion utriusq. Mus. pract. 1538, Blatt 5).

Über die Choralmusik siehe das Nähere unter Choral, Gregorianischer Gesang etc. Neu nennt Rhau die Mensuralmusik, weil sie erst zu Anfang des 13. Jahrhunderts angefangen hat sich zu entwickeln, und die Musica plana ihr voraufgegangen war. Zwar hat schon der Ambrosianische Gesang sowie sein mutmaßliches Vorbild, der griechische oder hebräische Gesang, aus abwechselnden Längen und Kürzen bestanden, doch ohne dass man einen von beiden darum Mensuralgesang nennen dürfte. Denn Länge und Kürze des Tones waren nur durch die prosodische Länge und Kürze des Textes bestimmt, dem trochäischen Versfuß entsprechend, also weder selbständig musikalisch, noch auch in ähnlicher Weise nach bestimmten Zeitwerten gemessen wie die Noten der alten Mensural- und unserer heutigen Musik. Die Noten der Alten gaben, wie die Neumen des Cantus planus ebenfalls, auch nur Höhe und Tiefe der Töne an, ohne eine Zeitdauer derselben zu unterscheiden. Von einer älteren Mensuralmusik zu sprechen und dies auf den bloß metrischen Ambrosianischen und griechischen Gesang zu beziehen, ist daher ganz falsch.

Mensuralgesang entstand erst, als die Töne der Melodie hinsichtlich ihrer Zeitwerte von der Prosodie sich unabhängig zu machen anfingen, so dass auf eine metrisch lange Silbe eine kurze Note und umgekehrt, auf eine metrisch kurze Silbe auch eine lange Note zu stehen kommen konnte. Und ferner als man anfing mehrstimmig zu setzen, d. h. nicht bloß in Quinten, Quarten und Oktaven einförmig zu diaphonieren oder organisieren, sondern mit zweien oder mehreren Stimmen von einigermaßen selbständigem Tongang und Rhythmus gegeneinander zu kontrapunktieren, woraus denn eine bestimmte Mensur der Töne von selbst mit Notwendigkeit sich ergeben musste, indem sonst Konfusion und Disharmonie nicht ausbleiben konnten. Daher versteht man unter Mensuralmusik auch allezeit zugleich mehrstimmige Musik.

Der Ausdruck Figuralmusik ist mit Mensuralmusik gleichbedeutend. Als man anfing, die Töne bestimmt zu messen und die verschiedenen Zeitwerte durch die Form der Noten zu veranschaulichen, entstanden alsbald für die Teilungen der Längen in verschiedene Kürzen oberer und niederer Ordnungen entsprechende Modifikationen der Notengestalt. Von diesen Gestalten (figurae) der Notengattungen und von den aus Vermischung derselben entstehenden Zeitfiguren schreibt sich der Ausdruck Musica figuralis, Figuralmusik, her. Hiervon zu unterscheiden hat man übrigens das, was wir figurierten Gesang, figurierten Stil (Cantus figuratus) nennen. Denn dieser ist nur ein Gesang, in welchem die melodischen Hauptnoten in kleinere Teile (Figuren, Diminutionen) zerlegt sind, wodurch der Gesang bewegt und gefärbt wird, was beim eigentlichen Figuralgesang zwar auch stattfinden kann, aber noch nicht immer notwendigerweise der Fall zu sein braucht. Dass unsere heutige Musik ebenfalls Figural- oder Mensuralmusik ist, versteht sich von selbst, denn sie bedient sich verschiedener und durch verschiedene Tonzeichen ausgedrückter Notenwerte. Doch pflegt man jene beiden Ausdrücke insbesondere auf die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts anzuwenden, weil in diesem Zeiträume die künstliche [künstlerische] Behandlung der Mensur in voller Blüte stand. Was vorliegendes Werk hierüber zu bieten vermag, ist im folgenden Artikel Mensuralnotenschrift enthalten. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 547]

Mensuralmusik (1840)

Mensuralmusik, lateinisch: Musica mensurabilis, die in bestimmte Taktordnung gebrachte Musik, wie sie sich in ihrer Entwicklung allmählich von den einfachsten prosodischen Formen der Sprache, der Quantitätenordnung, trennte, alsdann zu genauer Bestimmung und Bezeichnung der Zeitdauer (Note und Geltung) und in Folge dessen zu reicherer rhythmischer Entfaltung gelangte.

Die erste Ausbildung der Note als Tonschrift setzt Kiesewetter in den Anfang des 12. Jahrhunderts. Zuerst hatte die Mensuralmusik deren vier von verschiedener Geltung (vergleiche Noten und nachfolgendes Notenbeispiel);

Mensuralmusik (Gathy 1840)

Noten der Mensuralmusik: Maxima, Longa, Brevis, Semibrevis

später kam noch eine fünfte, die Minima, hinzu,

Mensuralmusik (Gathy 1840)

Mensuralnotation: Minima

bis dahin alle mit geschwärzten (gefüllten) Köpfen, die im 14. Jahrhundert unausgefüllt gelassen, wodurch noch drei geringere Größen gewonnen wurden:

Mensuralmusik (Gathy 1840)

Mensuralnotation: Semiminima, Fusa, Semifusa

Eigentlichen Takt, in unserem Sinne, hatte man nicht, sondern Mensur: Man maß die Noten der Figur nach, durch beständiges Zählen. Die Brevis, welche das Tempus genannt wurde, war gleichsam das mittlere Maß. Das Tempus war entweder perfectum und hatte drei Semibreven, oder imperfectum und hatte deren dann nur zwei. In gleicher Weise unterschied man den Modus major, wonach die Longa in drei Breven, vom Modus minor, nach welchem sie in zwei Breven zerfiel; ferner die Prolatio oder Wertbestimmung der Semibrevis in Prolatio major, wonach diese drei, und Prolatio minor, nach der sie zwei Minimen galt – welche verschiedene Verhältnisse mannigfach gemischt oder verbunden werden konnten.

Die Zeichen für alle diese Einteilungsarten waren:

  1. O [Kreis] 3 und O 2 für Modus major und minor;
  2. [Kreis mit Punkt] und [Halbkreis mit Punkt] für Major prol. temp. perf. und imperf.;
  3. O [Kreis] und C [Halbkreis] für minor prol. temp. perf. und imperfecti.

Zur Verknüpfung verschiedener Töne und Geltungen bediente man sich der Ligatur, der Plica und des Punktes (siehe dort).

Die Theorie von der Mensur ward in der Folge eine der verwickeltsten und schwierigsten. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts fällt sie allmählich ab und macht der neueren Taktlehre Raum. Theoretiker und Autoren siehe unter Mensuralisten. [Gathy Encyklopädie Musik-Wissenschaft 1840, 303]