Lyra (ital.: lira, französ.: lyre), fälschlich auch Leyer genannt, ist das älteste Saiteninstrument, dessen Ursprung auf den ägyptischen Hermes Trismegistus [sic] (d. h. der Dreimalgrößte), der als mythologisches Wesen bald mehr als Gott, bald mehr als historische Person zur Darstellung kommt, zurückgeführt wird. Der Mythos, welcher den ägyptischen Hermes oder Mercur die Lyra erfinden ließ, sagt uns:
Als der Nil nach einer langanhaltenden Überschwemmung in seine Ufer zurückgetreten war, blieb mit vielen anderen Tieren auch eine Schildkröte auf dem Lande liegen, deren Fleisch verfault und vertrocknet war, so dass sich nichts weiter vorfand, als die durch diese Vertrocknung angespannten und dadurch klingend gewordenen Sehnen unter der Schale. Zufällig mit dem Fuße die Schale dieser Schildkröte berührend, wurde Hermes durch den Klang der Sehnen so überrascht, dass er auf den glücklichen Gedanken kam, ein musikalisches Instrument daraus zu verfertigen. So die Sage von der Erfindung der alten dreieckigen und dreisaitigen Lyra.
Die Griechen schrieben natürlich die Erfindung der Lyra ihrem Landesgotte Hermes zu. Dieser ist der Sage nach ein Sohn des Zeus und der Maja, der Tochter des Atlas. In einer Höhle des Berges Kyllene in Arkadien geboren, schlüpfte er einige Stunden nach seiner Geburt aus der Wiege, ging nach Pierien und stahl dem Apollo Rinder, die er nach Pylos trieb. Um nicht bei diesem Rinderdiebstahl ertappt zu werden, ging er mit den Tieren rückwärts, band ihnen Baumzweige an die Schwänze und verwischte damit die Fußstapfen. Schnell nach Kyllene zurückgekehrt, tötete er dort eine Schildkröte, spannte Saiten über die Schale und erfand so die Lyra. Apollo entdeckte aber durch seine Wahrsagergabe den Dieb seiner Rinder und überließ sie ihm gegen Abtretung der Lyra. Deshalb erscheint er, auch neben seinem Attribute als Sonnengott, als Gott des Gesanges und des die wilden Leidenschaften besänftigenden Lyraspiels, daher ihm auch neben dem "Bogen" als zweites Hauptattribut die "Lyra" gegeben wird.
Infolge der Veränderungen, welche Linos, Orpheus, Amphion und Terpander mit der Lyra vornahmen, vermehrte sich die Zahl der Saiten auf 4, 5, 7 und zuletzt auf 11. Nach anderen verbesserte nur der griechische Hermes, nach einigen Apoll die ägyptische Lyra, indem er dieser noch eine vierte Saite hinzufügte. Die Lyra des Anubis auf einem ägyptischen Mumienkasten in Wien weist übrigens bereits fünf Saiten auf.
Durch die verschiedene Zahl der Saiten, die verschiedene Form und die verschiedene Annahme der Erfindung dieses Instruments sind endlich auch, besonders in anderen Sprachen, verschiedene Namen für dasselbe Tonwerkzeug entstanden. Die Lyra Pythagoras, welche die Form eines Dreifußes gehabt haben soll, also wahrscheinlich wenig von der älteren dreieckigen Lyra verschieden war; die Lyra lesbia, die Lyra des Arion, die schon erwähnt wurde; die Lyra hexachordis, d. i. die 6-saitige Lyra. Die Lyra barberina war eine von Joh. Baptist Doni zu Florenz im 17. Jahrhundert erfundene Lyra. -
Die Lyra wurde beim Spiele, welches durch Reißen [Zupfen, Anschlagen] der Saiten mit einem Plektron oder auch mit den Fingern geschah, zwischen den Knien gehalten. Die siebensaitige Lyra wird beim Gesang zum Andenken ihrer Helden auch heute [um 1870] noch in Abyssinien und den angrenzenden Ländern angewendet. Ein Griffbrett, auf welchem die Saiten zur Vervollständigung oder Erweiterung der Tonleiter verkürzt werden könnten, hatte die Lyra nicht. Es enthielt oder enthält dieses Instrument demnach nicht mehr Töne als Saiten, die dann aber in verschiedenen Harmonien gestimmt werden, so dass auf mehreren der heutigen Lyren in den genannten Ländern vollständige Harmonien ausgeführt werden können.
Amphion, von den Musen unterwiesen, weihte sich der Musik und der Dichtkunst. Die Lyra, deren Saiten er vermehrte, soll er so schön und rührend haben spielen können, dass er mit seinen Tönen die Tiere des Waldes, Bäume und Felsen bezauberte. Auch Terpander, einer der berühmtesten Musiker und Dichter Griechenlands, zu Antissa auf Lesbos um 700 v. Chr. geboren, soll auf der Lyra ein für seine Zeit großer Meister gewesen sein. Übrigens wurde die ursprüngliche Lyra des griechischen Hermes (Mercur) der Sage nach zu Lyrnessus aufbewahrt, wo sie Achilles bei Eroberung dieser Stadt erbeutete - anderen Erzählungen zufolge nach dem grausamen Tode des Orpheus, der sie von Apollon erhalten hatte, von Zeus unter die Gestirne versetzt. [Mendel Musikalisches Lexikon 1876, 477f]