Nonenakkord (1865)
Nonenakkord. Dieser Akkord ist noch heute [um 1865] ein Streitpunkt der Theoretiker. Manche wollen sämtliche eine None enthaltende Akkordbildungen für Vorhaltsakkorde angesehen wissen; andere schreiben zweien Nonenakkorden Akkordberechtigung zu, und die dritten (unter ihnen auch Koch im [Musiklexikon von 1802]) erklären den Nonenakkord für einen Stammakkord. Ich bin der Ansicht, dass die None keine harmonische, sondern eine melodische Dissonanz sei, aus der weiteren Untersuchung der Nonenakkorde wird die Richtigkeit dieser Annahme noch deutlicher sich ergeben.
Die ältere Theorie lässt den Nonenakkord, als reell fünfstimmigen Akkord, durch Terzenbau entstehen, eben wie den Dreiklang und Septimenakkord, indem letzterem (dem Septimenakkord) eine vierte, je nach Umständen große oder kleine Terz hinzugefügt wird. So bilden sich Haupt- und Nebennonenakkorde. Der Hauptnonenakkord ist der Dominantseptimenakkord der V [der fünften Stufe] mit oberhalb hinzugefügter großer Terz - großer Nonenakkord - oder kleiner Terz - kleiner Nonenakkord. Beide Nonenakkorde kann man sich auch entstanden denken durch Ineinanderschiebung des Dominantseptimenakkordes und leitereigenen Septimenakkordes VII- in Dur und Moll:
oder durch Hinzufügung der fünften Tonstufe als Bass zum Akkorde der VII-. Mag man diese Akkorde aber betrachten wie man will, die None bleibt jederzeit melodische Dissonanz, denn sie fällt jederzeit mit ihrer wenn auch um eine Oktave entfernt liegenden Auflösung zusammen, was bei der harmonischen Dissonanz (der Septime) niemals der Fall ist, indem diese stets in ein Intervall resolviert, welches nicht ihrem eigenen, sondern einem anderen Akkorde angehört. Dass auch die Septime unter Umständen nur Vorhalt sein kann, ändert nichts an der Sache. Der große und kleine Nonenakkord sind schließlich auch nichts weiter als durch Vorhalte entstandene Akkordbildungen, die, ihrer leichten Fasslichkeit wegen, von der Instrumentalmusik sehr wohl frei angewendet werden können.
Den Nonenakkord für einen Stammakkord zu erklären, ist keine Veranlassung gegeben, unerachtet man solche in neuester Zeit wieder mehrfach gesucht hat. Denn zum Wesen eines Stammakkordes gehört Erzeugung abstammender (Umkehrungs-)Akkorde in allen Lagen.(1) Viele Versetzungen des Nonenakkordes werden aber unmöglich, weil mehr als zwei ihrer Intervalle dicht nebeneinander fallen, zum Beispiel H-d-f-g-as, d-f-g-as-h. Drei Töne liegen nebeneinander, der Akkord ist unverständlich. In weiter Lage, z. B. H-g-f1-as1-d, ist er zwar verständlich und verwendbar, Stammakkorde aber müssen Umkehrungen nicht nur in eine oder in die andere Lage, sondern in alle Lagen zulassen. Überdies ist auch in den Umkehrungen ebenso gut wie im Grundakkord die None entweder gebundener Vorhalt oder freie Dissonanz, Wechselnote vor der Oktave. Indem wir aber den Nonenakkord und eine hier und da vorkommende Umkehrung desselben für Vorhaltsakkordbildungen erklären, haben wir sowohl die umständliche Aufstellung von Haupt- und Nebennonenakkorden, als auch die noch mehr verwickelte Benennung und Bezeichnung der abstammenden Umkehrungsakkorde aufgegeben. Sieht man den Nonenfünfklang für einen Stammakkord an, warum nicht auch den Undezimen- und Terzdezimenakkord? Es bedürfte dann nur noch eines Schrittes, um Terzenaneinanderreihungen durch das ganze Tonsystem für Akkorde zu erklären.
Im vierstimmigen Satz tritt die None entweder in Verbindung mit Grundton, Terz und Quint auf, und der Zusammenklang wird dann einfach mit 9 bezeichnet, die übrigen Intervalle erhalten nur behufs etwa nötiger näherer Bestimmung eine Signatur. Oder sie erscheint in Verbindung mit Grundton, Terz und Septime, als sogenannter Nonensept- oder Septnonenakkord, beziffert mit 9/7.
Vierstimmige Verbindungen der None mit Grundton, Terz und Quint. Die große None kommt mit reiner Quint und großer und kleiner Terz vor, Notenbeispiele 5a und 5b. Ferner mit übermäßiger Quinte und großer Terz, wobei die übermäßige Quinte gleichfalls vorbereitet ist und entweder mit der None zugleich (Beispiel 5c) oder erst später (Beispiel 5d) sich auflöst:
Die kleine None hat entweder die reine oder verminderte Quinte bei sich; wenn die reine Quint, so eine große oder kleine Terz, Notenbeispiele 6a und 6b; wenn die verminderte Quinte, so allemal eine kleine Terz; die verminderte Quint kann vorbereitet sein, auch frei eintreten, Beispiele 6c und 6d:
Auf einen Bass, der in fallenden Terzen und steigenden Sekunden sich bewegt, kann eine Progression von abwechselnden Nonen- und Quintsextakkorden gemacht werden, welche jedoch wegen der Härte der Quartenfortschreitungen zwischen Sopran und Tenor nicht von allen Tonsetzern gebilligt wird, Beispiel 7a. Die übermäßige None auf der kleinen sechsten Stufe der weichen Tonart [Moll] löst sich aufwärts auf und hat die große Terz und reine Quinte bei sich, noch besser aber die Quarte und Sexte - als ebenfalls verzögerte Intervalle des Dominantakkordes bei der Trugfortschreitung V-VI, Notenbeispiele 7b und 7c:
Mitunter (auch bei Koch [in seinem Musiklexikon von 1802]) findet man die Septimenvorhalte, Beispiele 8a, b, c, für Nonenakkordumkehrungen erklärt, indem ihnen eigentlich ein Nonenverhältnis zu Grunde läge (Beisp. 8 d, e, f), worauf nur durch Verwechselung des Grundtones eine Septime entstanden sei:
Doch liegt keine Nötigung vor, die Beispiele 8a, b, c für Nonenakkordumkehrungen anzusehen; es sind einfache Septimenvorhalte und nichts weiter.
1 Die älteren Theoretiker verwarfen die Umkehrnngen des Nonenakkordes. Blainville, ein Komponist und Theoretiker, der mit seinen Werken kein Glück machte, soll sie in Frankreich zuerst aufgestellt haben.
[Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 605ff]