Nachahmung (1865)

Arrey von Dommer: "Nachahmung"
Begriffsbestimmung Nachahmung/Imitation
1). Strenge und freie Nachahmung
2). Einfache/periodische und kanonische Nachahmung
3). Fortführung der Proposta
4). Nachahmung im Einklang, in Sekunde, Terz, Quarte etc.
5). Nachahmung in Gegenbewegung, krebsgängige Nachahmung, Augmentation und Diminution, Cantus firmus und Nachahmung
6). Quintessenz: Bedeutung/Wert der Nachahmung/Imitation
Lehrbücher

Nachahmung, Imitation, die Darstellung eines Tongedankens von größerer oder geringerer Ausdehnung durch zwei oder mehrere nacheinander eintretende Stimmen, entweder auf gleicher oder auf verschiedener Tonstufe, Beispiel 1 [J. S. Bach]:

Nachahmung, Beispiel J. S. Bach (Dommer 1865)

1). Die vorangehende Stimme heißt Proposta, Thema, Modell, Subjekt (vox antecedens, guida), die nachahmende Risposta, Antwort (vox consequens, conseguenza), schlechthin Nachahmung.

Es gibt zwei Hauptgattungen der Nachahmung, die strenge und die freie. In der strengen wird die Proposta genau imitiert. Es muss an gleicher Stelle halber Ton [Halbtonschritt] mit halbem Ton und ganzer Ton [Ganztonschritt] mit ganzem Ton beantwortet werden. Ferner muss die Risposta bald nach der Proposta eintreten, oftmals folgt sie ihr bereits nach nur wenigen Pausen. Endlich pflegt die strenge Nachahmung stets einen längeren und melodisch entwickelten Satz von mehreren Takten zum Thema zu haben.

Die freie Nachahmung hingegen nimmt auf genaue Beantwortung der Folge der halben und ganzen Töne keine Rücksicht, so dass also da, wo im Thema eine halbe Stufe [kleine Sekunde] vorkommt, in der Nachahmung eine halbe oder ganze [große Sekunde] stehen darf. Ebenso wenig wird genaue Einhaltung der anderen Intervalle gefordert, sondern es kommt nur auf Ähnlichkeit des Rhythmus und Tonganges überhaupt an. Hinzufügung von Versetzungszeichen ist demnach nicht nur gestattet, sondern unter Umständen geboten. Doch dürfen, abgesehen davon, dass fehlerhafte Intervallschritte überhaupt zu vermeiden sind, die Abweichungen vom Thema nicht so erheblich sein, dass die Erkennbarkeit der Nachahmung darunter leidet.

In vorliegendem Artikel ist nur von dieser freien Nachahmung und ihren Unterarten, der einfachen und kanonischen, die Rede. Die strenge [Nachahmung], der Kanon selbst, ist in einer eigenen Abhandlung [Lexem: Kanon] beschrieben.

2). Eine Nachahmung setzt jederzeit reelle Stimmenmehrheit voraus, denn der Begriff derselben fordert Hindurchgehen des Tongedankens durch mehrere verschiedene Stimmen. Eine einzelne Stimme kann einen Satz nur entweder auf gleicher Tonlage wiederholen oder in andere Tonlage versetzt (gleichviel ob sonst verändert oder nicht) wiedergeben, aber nicht sich selbst nachahmen. Also sind zur Imitation wenigstens zwei reelle Stimmen erforderlich, wobei aber unbenommen bleibt, noch eine oder mehrere freie Füllstimmen den nachahmenden beizugeben, wovon im Folgenden noch Beispiele sich finden werden. In diesem Falle bleibt aber die Nachahmung doch nur eine zweistimmige, denn die Füllstimme zählt nicht. Ebenso gut können auch drei und mehr Stimmen bei der Imitation sich beteiligen, demnach eine drei- und mehrstimmige Imitation ausführen.

Die Länge des nachzuahmenden Tongedankens ist durch kein Gesetz vorgeschrieben, sondern allein durch die Absicht des Komponisten bedingt. Oft dient nur eine kurze melodische oder rhythmisch ausgeprägte Figur, mehr ein Motiv oder Motivglied als ein Gesang, als Thema. Beispiel 2 [J. S. Bach], dreistimmig mit freiem Bass:

Nachahmung dreistimmig (Dommer 1865)

Doch, wenngleich noch so kurz, muss das Modell [Motiv], wie sich auch von selbst versteht, immer eine ausgeprägte Gestalt haben und ein gewissermaßen vollständiges Tonbild sein, nicht eine ganz unerhebliche Phrase, die keiner Antwort wert ist und nicht verdient, dass mehrere Stimmen darum sich bemühen. Die Weite der Tonschritte [Intervalle] braucht, wie vorhin gesagt, von der Imitation nicht genau eingehalten zu werden, oft genügt es schon, wenn nur allgemeine rhythmische und melodische Ähnlichkeit vorhanden ist. In Beispiel 3 [Haydn] ist der zweite Schritt des Themas eine Sexte, in der ersten Nachahmung jedoch eine None, in der zweiten eine Oktave:

Nachahmung, Beispiel Haydn (Dommer 1865)

Zu große Ausdehnung des Modells ist nicht ratsam, denn die Nachahmung kommt sonst, namentlich wenn sie etwa oft wiederkehrt, leicht in Gefahr, monoton und schwerfällig in der Durchführung zu werden, es sei denn, dass die Stimmen sehr bald nacheinander eintreten und in kanonischer Weise imitieren.

Man unterscheidet hier, in Betreff des Eintrittes der nachahmenden Stimmen, zwei Arten, nämlich einfache oder periodische und kanonische Nachahmung. In der einfachen oder periodischen Imitation (partialis, periodica) ahmt die Risposta, wenn das Thema länger ist, nur eine besonders hervorstechende Figur (gewöhnlich die Anfangsfigur) nach und geht dann frei weiter. Außerdem tritt sie gewöhnlich ein, nachdem die Proposta ihren Satz vollendet hat, zuweilen auch wohl etwas später, doch darf es nicht gar lange nachher geschehen, da sofortige Beantwortung bei weitem sprechender und wirksamer ist, als eine, die erst längere Zeit auf sich warten lässt. Überdies kann, wenn ein größerer Zeitraum zwischen Thema und Antwort liegt, jenes möglicherweise im Gedächtnis des Hörers sich verwischt haben. In der kanonischen (canonica, totalis) Nachahmung hingegen tritt die Risposta bald nach dem Anfang der Proposta selbst ein - oder wenigstens bevor diese mit dem Thema fertig ist - und ahmt den ganzen Gesang nach, so dass beide Stimmen in kanonartiger Weise miteinander fortschreiten. Doch braucht die kanonische Imitation darum noch keine strenge zu sein, denn es braucht weder die Folge der ganzen und halben Töne noch sonst die Weite der Tonschritte genau eingehalten zu werden, Beispiel 4 [Albrechtsberger]:

Nachahmung, Beispiel Albrechtsberger (Dommer 1865)

Unter den nachfolgenden Beispielen sind die meisten kanonische Nachahmungen.

An den gleichen Taktteil ist die Imitation nicht gebunden. Die Risposta kann den Satz auch auf dem entgegengesetzten Taktteil beginnen. In diesem Fall hebt die nachahmende Stimme im Aufschlag des Taktes, wenn die nachzuahmende ihn im Niederschlag angefangen hat. Solcher Satz heißt eine Nachahmung im vermischten Taktteil (per arsin et thesin, in contrario tempore).

3). In Betreff der Fortführung derjenigen Stimme, welche das Thema eben vorgetragen hat, unterscheidet man ferner zwei Arten Imitationen:

  1. Entweder schweigt die Proposta, wenn sie mit ihrem Gesange fertig ist, während die Risposta ihn aufnimmt und nachahmt, oder hält nur einen einfachen Akkord aus, ohne eine selbstständige Bewegung zu machen.
  2. Oder jene kontrapunktiert gegen die Risposta weiter, ohne durch den Eintritt der Nachahmung sich unterbrechen zu lassen.

Die erste Art ist die einfachere und kunstlosere, kann nichtsdestoweniger aber doch, als ein Wechselspiel verschiedener Stimmen mit einer Tonfigur, sehr angenehm und interessant sein, man findet sie nicht selten auch bei den besten Meistern. Gewöhnlich wird dann nur eine kurze Figur durchgeführt. Beispiel 5 [Händel]:

Nachahmung, Beispiel Händel (Dommer 1865)

Die andere Art ist vollkommener und hat mehr Bedeutung, Beispiel 6 [Beethoven]:

Nachahmung, Beispiel Beethoven (Dommer 1865)

4). Es kann nun außerdem noch die Nachahmung auf sehr verschiedene Weise vor sich gehen. Zuerst braucht in Anbetracht des Intervallverhältnisses zwischen Proposta und Risposta die letztere der ersteren keineswegs immer im Einklang oder in der Oktave zu antworten, sie kann ein beliebiges anderes Intervall dazu wählen, vorausgesetzt dass die gute Fortführung des Themas es zulässt. Die gewöhnlichsten und brauchbarsten Intervalle und demnach Arten der Nachahmung sind folgende:

1. Die Nachahmung im Einklang (imitatio homophona oder in unisono), die Risposta trägt den melodischen Satz auf ebenderselben Stufe vor, auf wecher die Proposta damit vorangegangen ist, Beispiel 7 [Albrechtsberger]:

Nachahmung im Einklang (Dommer 1865)

2. In der Oktave, wenn die Imitation des Satzes um eine Oktave höher oder tiefer geschieht (imitatio hyper- oder hypodiapason), Beispiel 8 [Händel]:

Nachahmung in der Oktave (Dommer 1865)

3. In der Quinte, wenn die Imitation um eine Quinte höher oder tiefer vorgenommen wird (in hyper- oder hypodiapente), Beispiel 9 [Graun]:

Nachahmung in der Quinte (Dommer 1865)

4. In der Quarte (in hyper- oder hypodiatessaron), Beispiel 10 [Bach]:

Nachahmung in der Quarte (Dommer 1865)

5. In der Terz (in hyper- oder hypoditono), Beispiel 11 [Marpurg]:

Nachahmung in der Terz (Dommer 1865)

6. In der Sexte (in hexachordo superiori vel inferiori), Beispiel 12 [Albrechtsberger]:

Nachahmung in der Sexte (Dommer 1865)

7. In der Sekunde (in secunda superiori vel inferiori), Beispiel 13 [Schütz]:

Nachahmung in der Sekunde (Dommer 1865)

8. In der Septime (in heptachordo superiori vel inferiori), Beispiel 14 [Bellermann]:

Nachahmung in der Septime (Dommer 1865)

Sind mehr als zwei Stimmen bei der Nachahmung beteiligt, so können sie in verschiedenen Intervallen gleichzeitig imitieren. In nachstehendem, in kunstvoll kanonischer Weise geführten Beispiel 15 [Caldara], ahmen alle vier Stimmen nach, und zwar der Alt den Bass und der Sopran den Tenor in der Oktave und die letzten beiden Stimmen den Bass in der Quarte:

Nachahmung, Beispiel Caldara (Dommer 1865)

5). In allen bisher beschriebenen Arten der Nachahmung trägt die Risposta das Steigen und Fallen der Melodie in eben der Ordnung vor wie die Proposta. Solche Nachahmung wird Imitation in gerader Bewegung (imitatio aequalis motus) genannt. Man kann einen Satz aber auch in Gegenbewegung nachahmen (imitatio inaequalis motus, in motu contrario). Die Gegenbewegung (Näheres siehe unter Gegenbewegung) ist zweierlei Art, entweder streng oder frei. In der strengen Gegenbewegung folgen ganze [Ganztonschritte] und halbe Töne [Halbtonschritte] in der nachahmenden Stimme ganz in derselben Ordnung aufeinander, wie in der vorangehenden (imitatio in contrario stricte riverso, imitazione al contrario riverso), Beispiel 16:

Nachahmung in strikter Gegenbewegung (Dommer 1865)

Wird die Ordnung der ganzen und halben Töne in der Gegenbewegung nicht so genau eingehalten, so ist die Nachahmung in freier Gegenbewegung abgefasst (imitatio in mota cotrario simplici, alla riversa, al rovescio), Beispiel 17 [Bellermann]:

Nachahmung in freier Gegenbewegung (Dommer 1865)

Auch Übungen der Nachahmung in Gegenbewegung haben ihren Nutzen, wenngleich die Imitation in gerader Bewegung die in der Komposition weitaus gebräuchlichere ist.

Außerdem gibt es noch die krebsgängige oder rückgängige Nachahmung (imitatio cancrizans oder per motum retrogradum). Die nachahmende Stimme trägt das Thema rückwärts, vom Ende zum Anfang, vor. Und ferner kann mit der rückgängigen Bewegung auch zugleich die Gegenbewegung verbunden werden, es entsteht die verkehrt rückgängige Nachahmung (imitatio cancrizans motu contrario). Beispiel hierfür sind überflüssig, weil wertlose, für die Praxis untaugliche Spielereien, mit denen niemand sich abzugeben braucht. Denn wenn es auch gelingen kann, einen guten melodischen Satz zu finden, der solche Verrenkungen mit sich vornehmen lässt, so wird er doch eben dadurch unkenntlich gemacht.

Bei weitem wichtiger auch für die Nachahmung sowohl im strengen als freien Stil - und unter Umständen von bedeutender Wirkung - ist Augmentation und Diminution. Bei der Nachahmung in der Augmentation trägt die Risposta die Melodie in Noten von doppeltem, bei der Nachahmung in der Diminution in Noten von halbem Zeitwert vor (Beispiele 18 a und b):

Nachahmung in der Augmentation (Dommer 1865)

Nachahmung in der Diminution (Dommer 1865)

Endlich kann man einen Cantus firmus, am besten einen Choral wählen und dazu zwei Stimmen in periodischer oder kanonischer Imitation führen. Der Cantus firmus liegt am besten in der Mittelstimme, die imitierenden Stimmen bilden die äußeren. Das Motiv der Nachahmung kann entweder von freier Erfindung oder aus dem Cantus firmus selbst gebildet sein. Man hat besonders darauf zu achten, dass Stimmeinsätze nach vorangegangenen Pausen deutlich und wirkungsvoll erfolgen; deshalb soll der Wiedereintritt einer Stimme nicht auf einem Intervall geschehen, welches von einer anderen schon (im Einklang oder in der Oktave) besetzt ist, sondern wo möglich auf einem Ton, der zu einem vollen Akkord noch fehlt. Die Teilschlüsse der imitierenden Stimmen (wenn der Catuns firmus ein Choral ist) müssen so eingerichtet werden, dass sie nicht mit den Versen der Melodie zugleich erfolgen, sondern erst dann, wenn (nach der gewöhnlichen Pause zwischen denselben) die nächstfolgende Versmelodie eingetreten ist (etwa auf der zweiten Note derselben).

6). Die Nachahmung ist wesentliche Grundlage aller musikalischen Gedankenentwicklung, die imitatorische Schreibart so alt wie die Entwicklung von Tongedanken überhaupt und für die Ausarbeitung von Tonstücken, sowohl gebundenen als freien Stiles, vom umfassendsten Nutzen. Obgleich sie wesentlich der Fuge oder wenigstens der gebundenen Schreibart angehört, so ist sie doch fast ebenso gut in Tonstücken freien Stils zu Hause, und ihre Verwendung in der Symphonie, Sonate, namentlich im Streichquartett, wo es besonders auf Selbstständigkeit der vier Stimmen ankommt, sehr häufig, und zwar an keinen bestimmten Ort im Periodenbau gebunden, sondern völlig frei, wo und wann es dem Tonsetzer passend erscheint und Gelegenheit dazu sich findet; während in der Fuge der Gebrauch der Nachahmung größtenteils von gewissen, dieser Gattung von Tonstücken eigenen Regeln und Formen abhängt. Hier wie dort aber ist sie, mit Geschmack und Geschick und ohne zur Schau getragene Künstelei verwendet, nicht nur eine Zierde des Tonsatzes, sondern trägt auch wesentlich zu dessen Gediegenheit bei. Es ist nicht allein schon an sich interessant, angenehm und unter Umständen höchst ausdrucksvoll, wenn mehrere Stimmen denselben melodischen Satz ergreifen und bei dessen Durchbildung gleichen Anteil nehmen, sondern auch ebenso nützlich. Denn in Tonstücken von mehreren obligaten Stimmen ist die Imitation ein thematisches Mittel von sehr wesentlicher Bedeutung, nicht nur dem Tongedanken eine ebenso einheitliche als mannigfaltige Durchbildung zu Teil werden zu lassen, sondern auch die einzelnen Stimmen interessant und gediegen zu führen und ihnen gleichen Anteil an der gesamten Ausgestaltung zu geben. Und namentlich für eine der feinsten Kunstformen, das ältere Kammerduett, von dessen Wert die heutige Zeit [Mitte des 19. Jahrhunderts] allerdings entweder gar keinen oder doch nur einen aus älteren Monumenten, aber nicht aus eigener Produktion abstrahierten Begriff hat, ist die Imitation, sowohl einfacher als kanonischer Art, von unschätzbarem Wert, indem sie von zwei selbstständigen Gesangstimmen, wobei möglicherweise noch ein Instrumentalbass sich beteiligt, aufs kunstreichste und bedeutendste durchgeführt werden kann. In allen Fällen aber setzt eine geschickte Anwendung der Imitation einen tüchtigen Harmoniker und Kontrapunktisten voraus - fleißige Übung darin aber wird sicher niemand zu bereuen haben.


[Lehrbücher]

Beispiele von guten Imitationen kann man schon im Bachs Werken allein (Kunst der Fuge, Wohltemperiertes Klavier, Orgelstücke etc.) in reichlichster Auswahl finden. Außerdem ist hinlänglich bekannt, welchen ausgedehnten und geistvollen Gebrauch Haydn, Mozart und Beethoven, namentlich in ihren Quartetten, davon gemacht haben.

Abhandlungen über die Nachahmung findet man in allen Lehrbüchern der Tonsetzkunst [um 1865]. Marpurg, Abhandl. von der Fuge (Ausg. von Dehn, Leipzig 1858), S. 1ff.; Albrechtsberger, Gründl. Anweisung zur Composition (Leipzig 1790), S. 161 ff.; [...] Cherubini, Cours de Contrepoint, deutsch und französisch (Leipzig), S. 61; Bellermann, Der Contrapunkt (Berlin 1862), S. 173; [...] S. W. Dehn, Lehre vom Contrapunkt etc. (Berlin 1859), S. 38. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 590ff]