Musiklexikon: Was bedeutet Organum?

Organum (1929)

Organum griechisch: ὄργανον [organon], bedeutet
1) zunächst nur Werkzeug (Organ), spezieller aber Musikinstrument und dann das "Instrument der Instrumente", die Orgel (siehe dort).

2) die älteste und primitivste Art mehrstimmigen Musizierens, über deren wahre Natur lange eine irrige Meinung verbreitet war. Wie Hugo Riemann in seiner Geschichte der Musiktheorie, S. 17ff, nachgewiesen hat, ist das Organum nichts anderes als ein wechselndes Auseinandertreten zweier Stimmen vom Einklang aus bis zur Quarte und wieder Zurücklaufen in den Einklang bei allen Teilschlüssen der Melodie, die älteste Form des improvisierten Kontrapunkts zu den Melodien der Kirchengesänge. Die Gegenstimme liegt beim ältesten Organum stets unter dem Cantus firmus. Die älteste Lehrabhandlung (die Musica enchiriadis) lehrt allerdings das Organum auch als fortgesetzten Parallelgesang, sogar in Quinten mit Oktavverdoppelung beider Stimmen, und scheint damit eine Zeit lang durchgedrungen zu sein, so dass noch Guido von Arezzo das Quinten-Organum bekämpfte; d. h. er zieht das nicht parallele dem parallelen Organum vor.

Von Anfang an scheint der einen (nicht parallelen) Art des Organums der Stillstand der Organalstimme auf gewissen Tönen (C, F und G) eigentümlich gewesen zu sein, und bis in die Zeiten der ersten Mensuralkomponisten hinein, ja darüber hinaus bis ins 14. Jahrhundert (Muris) haben sich unter dem Namen Organum Formen der mehrstimmigen Komposition erhalten, deren Eigentümlichkeit lange Haltetöne der Unterstimme ("Orgelpunkte", organici punctus) sind. An Stelle des Einklangs bei den Teilschlüssen tritt um 1100 auch die Oktave. Die Kreuzung der Stimmen lehrt schon Guido, und der Engländer Joh. Cotton führt bereits direkt vom Organum zu dem eigentlichen Discantus (siehe dort) über.

In neuester Zeit hat Peter Wagner (Über die Anfänge des mehrstimmigen Gesangs, ZfMW. IX, 1, 1926) als älteste, dem Organum um zwei Jahrhunderte vorangehende südeuropäisch-römische Übung der Mehrstimmigkeit, d. h. des Zusammensingens in Quinten und Quarten neben der Oktave, die sog. Paraphonie nachzuweisen gesucht, die schon im 7. Jahrhundert in Rom gepflegt worden sei. Vgl. P. Wagner, Zu den liturgischen Organa (AfMW. VI, 1; 1924); Zum Organum Crucifixum in carne (ibid. VI, 4; 1924); J. Handschin, Zum Crucifixum in carne (ibid. VII, 2; 1925); derselbe, Zur Geschichte der Lehre vom Organum (ZfMW. VIII). [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 1312f]

Organum (1882)

Organum

  1. griechisch: ὄργανον [organon], bedeutet zunächst nur Werkzeug (Organ), spezieller aber Musikinstrument und dann das "Instrument der Instrumente", die Orgel (siehe dort).
  2. Die älteste und primitivste Art mehrstimmiger Musik, bestehend in einer fortgesetzten Parallelbewegung der Stimmen in Quinten oder Quarten (auch Diaphonie [Diaphonia] genannt). So entsetzlich dem heutigen Musiker der Gedanke einer derartigen Musik erscheint, so ist dieselbe doch nicht nur ein historisches Faktum, sondern auch das durchaus natürliche Übergangsglied zur eigentlichen mehrstimmigen Musik. Das Organum war eigentlich noch nicht wirkliche Mehrstimmigkeit, sondern Quintenverdoppelung, der natürlichste weitere Schritt von der längst im Altertum geübten Oktavenverdoppelung der Stimmen. Es führte aber bald zur Entdeckung des wahren Prinzips der Mehrstimmigkeit, der Gegenbewegung (siehe Discantus).
    O. Paul hat sich vielfach bemüht, nachzuweisen, dass das Organum nicht ein gleichzeitiges Singen in Quinten oder Quarten gewesen sei, sondern ein antiphonisches (abwechselndes), und der Gedanke ist ihm vielfach nachgeschrieben worden. Seine völlige Unhaltbarkeit und Grundlosigkeit geht aber nicht nur aus der ganz sukzessiven Entwicklung des Organums zum Diskantus, die durch zahlreiche Beispiele belegt ist, sondern auch aus den ältesten Definitionen der Theoretiker zur Genüge hervor. Das älteste Organum ist durchaus Note gegen Note gesetzt, mit Ausnahme der Fälle, wo die Organumstimme auf c liegen bleibt. Dagegen versuchte man später auch die organisierenden Stimmen zu diminuieren (vergleiche Orgelpunkt), wobei sich natürlich die Unentbehrlichkeit bestimmter Dauerzeichen herausstellte; man nannte aber die unzulänglichen erste Versuche noch Organum.

[Riemann Musik-Lexikon 1882, 653]

Organum (1865)

Organum.

  1. Ein Instrument, künstliches Klangwerkzeug im Allgemeinen. Organa empneusta, Blasinstrumente; organa entata, Saiteninstrumente.
  2. Die Orgel insbesondere.
  3. Der auch unter dem Namen Diaphonie und Symphonie bekannte älteste mehrstimmige Gesang, von welchem der Mönch Hucbald zu St. Amand in Flandern (gest. 930) in seinem Traktat Musica enchiriadis (Gerbert, Script. I) ausführlich handelt und Beispiele gibt.

Hucbald gilt für den Erfinder desselben, wenigstens hat man keine verbürgten Nachrichten, dass schon vor ihm eine Singart in gleichzeitigen verschiedenen Intervallen bekannt gewesen sei. Jedenfalls sind seine Beispiele die ältesten, welche uns aufbehalten sind. Aus dem hierauf näher eingehenden Artikel Diaphonie ist bekannt, dass jene Stimmenmehrheit zweifacher Art war. Die eine bestand aus ununterbrochenen Parallelen von Quinten und aus Oktavverdoppelungen derselben entstehenden Quarten; die andere enthielt auch andere Intervalle, wie aus den [im Artikel Diaphonie] gegebenen Beispielen ersichtlich. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 639f]