Musiklexikon: Was bedeutet Ambitus?

Ambitus (1865)

Ambitus (Umfang):
A) In alter Zeit der einer Melodie zugewiesene Tonumfang, die Tongrenzen, welche von ihr nicht überschritten werden durften. Ambitus est toni debitus ascensus et descensus, Tinctoris Diffin. um 1470. Vergleiche auch Georg Rhau, Enchir. utriusq. mus. 1538, Cap. De ambitibus tonorum. Nach Glarean (Dodecachord. 1547, Lib. I. pag. 34) durften die ältesten Kirchengesänge kaum den Umfang einer Quint überschreiten. In den gregorianischen Kirchentönen war die Oktave die dem Gesang gesteckte Grenze, und der Ambitus ein den plagalischen [plagalen] Ton von seinem authentischen, obwohl sehr unsicher, unterscheidendes Merkmal. Die vier authentischen Töne bewegten sich im Umfange vom Grundton bis zur Oktav, der Ambitus der plagalischen [plagalen] Töne hingegen erstreckte sich von der Unterquart bis zur Oberquint desjenigen authentischen Tones, dem der betreffende plagalische Ton als Nebenton angehörte. Doch hatte jeder plagalische Ton im regulären Gesang mit seinem authentischen die gleiche Schlussnote.

Im 12. Jahrhundert hatte der Melodieumfang bereits bis auf eine Dezime sich erweitert (Tonale Bernardi, Gerbert Script. II. 266), doch blieben gewisse den Ambitus der Töne betreffende Regeln geltend, nach welchen von den authentischen der Tonus I. und VII. einen ganzen Ton, der III. eine große Terz und der V. einen halben Ton in der Tiefe, von den plagalischen der Tonus II. selten, desto häufiger aber der IV. einen halben Ton, der VI. und VIII. einen ganzen Ton in der Höhe zu ihrer Oktave hinzusetzen durften (vergl. Forkel, Gesch. II. 172). Ein Gesang, der die Grenzen des seinem Tone gestatteten Ambitus ausfüllte, hieß Cantus perfectus; wenn er sie nicht ausfüllte, sondern oben oder unten oder an beiden Enden zugleich einige Töne unberührt ließ, hieß er imperfectus; und wenn er sie überschritt, plusquamperfectus - Ausdrücke, welche wahrscheinlich als Gesangüberschriften dienten, um den minder geübten Sänger vor einer zu hohen oder zu tiefen Intonation zu warnen (Mart. Agricola, Ein kurtz deudsch Mus. 1523. Blatt 28-32; Antony, Arch. liturg. Lehrb. des Gregor. Ges. 1829, S. 19). Außerdem unterschied sich vom authentischen und plagalischen Tone noch ein sogenannter gemischter Ton, Tonus mixtus, neutralis, durch seinen Ambitus. Dieser Tonus mixtus entstand, wenn ein authentischer Ton den unteren Teil seines plagalischen und wenn ein plagalischer Ton den oberen Theil seines authentischen berührte.

Jene vorhin angeführten Regeln für den Ambitus verloren zwar allmählich an Geltung, doch hat man auch noch im 16. Jahrhundert den Umfang von 10-12 Tönen innerhalb einer Melodie nicht gar häufig überschritten, wenn auch einzelne Tonsetzer 13-15 Töne wagten. Für die das Liniensystem übersteigenden Töne bediente man sich in der Notierung der Hilfslinien, häufiger aber noch der Änderung des Schlüssels. Palestrina hat für keine Stimme mehr als 9-10 Töne in Anspruch genommen. Nach Feststellung unserer heutigen Dur- und Molltonart aber wurde der natürliche Umfang der Gesangstimmen und Instrumente die einzige der Melodie gesteckte Grenze.

B) Fernere Anwendung hat das Wort gefunden auf die Tonart, in Bezug auf deren leitereigenen Intervallinhalt: Man nennt den Intervallkomplex, aus dem eine Oktavgattung oder Tonart besteht, den Ambitus derselben (vergl. Joh. Dav. Heinichen, Generalb. i. d. Compos. Dresden 1728, an vielen Stellen). Ebenso in Hinblick auf den Umfang ihrer natürlichen Modulation, namentlich auf diejenigen Akkordverbindungen, welche diesen oder jenen Kirchenton ganz besonders charakterisieren und von anderen unterscheiden. In diesem Sinne wendet man das Wort auch auf die leitereigenen Akkordverbindungen unserer modernen Dur- und Molltonart und deren Transpositionen an. Die Verbindungen der leitereigenen Akkorde machen den Ambitus der Tonart aus, treten leiterfremde Akkorde auf, so wird ihr Ambitus überschritten, sie sind extra ambitum.

C) In der Fuge versteht man darunter den Umfang der Oktav, welchen der Gefährte bei Beantwortung des Führers einzuhalten [hat], demzufolge er, wenn der Führer mit c-g authentisch anhebt, mit g-c plagalisch und nicht mit g-d zu antworten hat.

D) Und den Kreis derjenigen Tonarten, in welche die Fuga regularis förmlich ausweichen und worin sie Tonschlüsse machen darf. Und zwar wird in der sogenannten
1) clausula primaria in die Quint,
2) in der clausula secundaria, wenn die Tonart Dur ist in die Sext, wenn Moll in die Terz,
3) und in der clausula tertiara, wenn die Tonart Dur ist in die Terz, wenn Moll in die Sext kadenziert.
Alle anderen Kadenzen sind extra ambitum und werden clausulae peregrinae genannt (vergl. Mattheson, Neueröffn. Orch., Hamb. 1713, S. 147).

E) Heutzutage gebrauchen wir das Wort auch gleichbedeutend mit Umfang ganz im Allgemeinen, sowohl für den einer Melodie, als auch für den Abstand des höchsten Tones der Singstimmen und Instrumente von deren tiefstem Tone oder für die Summe der ihnen überhaupt erreichbaren Töne. Dass man in der praktischen Musik der äußerst hohen und äußerst tiefen Töne der Singstimmen und mancher Instrumente entweder gar nicht oder doch nur verhältnismäßig selten und auch dann nicht gerade andauernd sich bedient, ist in den die einzelnen Stimmgattungen und Instrumente betreffenden Artikeln erklärt. Und ebenso an anderem Orte erinnert, dass der Ambitus der gesamten in der Musik gebräuchlichen Töne acht Oktaven, von 2C-c5 umfasst. Zu Guidos Zeit betrug er nur 20 Töne, von G-e2. Dufay soll ihn bis auf 34 Töne […] erweitert haben, doch ist nichts Gewisses hierüber zu sagen. Seine vierstimmigen Vokalsätze überschreiten wenigstens einen Gesamtumfang von 21 Tönen nicht. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 45f]

Ambitus (1840)

Ambitus, Diapason, Umfang, Tonweite, der Abstand des tiefsten Tones einer Stimme oder eines Instrumentes von dem höchsten. Früher auch die Grenzen, innerhalb welcher sich die Melodie aufhalten musste, und der Umfang der Tonarten, in welche eine Fuge ausweichen durfte. Die ältesten Kirchengesänge durften kaum den Umfang einer Quinte überschreiten; nach und nach wurde derselbe bis zur Oktave erweitert, dann auch diese noch um einige Töne überschritten, bis endlich bei der großen Reform der Tonkunst, in welcher die alten griechischen Tonarten in unsere beiden modernen Tonarten umgewandelt wurden, aller Zwang der Melodie aufhörte. [Gathy Encyklopädie Musik-Wissenschaft 1840, 14f]