Musiklexikon: Was bedeutet Chanson?

Chanson (1929)

Chanson (französisch), Lied. Aus den einstimmigen, aber mit improvisierter Begleitung eines Instruments vorgetragenen strophisch angelegten Liedern der provenzalischen Troubadours und der nordfranzösischen Trouvères des 11. bis 13. Jahrhunderts (Kanzonen, Balladen) entwickelten sich um 1300 von Frankreich und Oberitalien ausgehend kunstvoll mehrstimmig ausgearbeitete Liedformen, die gleichfalls überwiegend nur für eine Singstimme geschrieben, aber kunstvoll von Instrumenten begleitet sind. Dieser Literatur gehören auch die sehr zahlreichen, heute allgemein kurzweg Chanson genannten Lieder der Folgezeit bis nach 1500 an. Nur für Singstimmen geschriebene mehrstimmige Lieder sind vor 1500 selten und repräsentieren eine Gattung von geringerem Kunstwert (volksmäßige Tanzlieder, auch kirchliche Hymnen - span. Villancicos, schlicht Note gegen Note gesetzt). über die Formen des Kunstliedes um 1300 bis 1500 vgl. Madrigal, Ballade, Rondeau, Frottola.

Erst nach 1500 wird der von Ockeghem zunächst für die Kirchenmusik aufgebrachte imitierende A-cappella-Stil auch auf das weltliche Lied übertragen und entstehen die neuen Liedformen des A-cappella-Madrigals (vgl. Willaert) und der neuen französischen A-cappella-Chanson (vgl. Janequin), jene ernster Haltung, diese von teils sentimentalem, teils ausgelassenem Charakter, mit oft sehr galanten Texten. Der Vater der imitierenden Chanson ist Josquin des Prés; dann hat ihr Arcadelt den freieren Ton, die dem Versbau entsprechende leichte architektonische Haltung gegeben. Nationalisiert, d. h. mit dem spezifisch französischen Zug der Eleganz, des Witzes, der Frivolität und Heiterkeit ausgestattet hat sie vor allem Clément Janequin (s. d.). Meister neben und nach ihm sind die Courtoys, Gombert, Willaert, Certon, Claudin de Sermisy, Sandrin, Passereau und Crecquillon. Später hat Ronsards antikisierende Dichtung die Chanson etwas akademischer gemacht, der Einfluss des Madrigals ihre Eigenart verwischt, wenn auch große Meister wie Clemens non Papa, Lasso und Sweelinck ihr noch immer individuelles Leben einhauchen und ihre internationale Geltung verbürgen. Nach dem vokalen Vorbild der neuen französischen A-cappella-Chanson entstand dann seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in Italien die Instrumental-Kanzone.

Die heutige [um 1930] französische Chanson ist wieder in der Regel einstimmig (mit Klavierbegleitung), hat aber auch manches von dem Wesen der Chanson des 16. Jahrhunderts konserviert, ist witzig pointiert oder sentimental. Vgl. Friedr. Gennrich, Der musikal. Vortrag der altfranzösischen Chansons de geste (Halle 1923); Th. Gerold, Le ms. de Bayeux, chansons du XVe siècle (Straßb. 1921); vgl. auch Cauchie, Expert. [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 297f]

Chanson (1882)

Chanson (französisch) das Lied der Franzosen, vorwiegend heiteren Charakters. Im 16. Jahrhundert waren in Frankreich noch das Sonett und das Rondeaux die beliebtesten lyrischen Dichtungsformen. Ronsard (von 1585) und vor allem Malherbe (1556-1628), der in Heidelberg und Basel studiert hatte, pflegten die Formen des in jener Zeit in Deutschland Ode genannten Liedes, das dann auch in Jean Baptiste Rousseau (1671-1741), in Racine und anderen Vertreter fand.

Allmählich erst nahm das Lied den leichten Ton an; naiver Scherz, epigrammatischer Witz und der Ausdruck der Munterkeit und Freude wurden sein Inhalt und bestimmten die leichte und sangbare Form. De la Fare, Lainez, Chaulieu, Gresset, Voltaire waren im vorigen Jahrhundert wegen der Leichtigkeit ihrer Lieder zum Sprichwort geworden. Seitdem wurde auch der Name Chanson allgemein. 1732 erschien in Paris: "Nouveau recueil de chansons françois" mit Musik und 1736 bereits: "Recueil de chansons choisies". 1765 "Chansons joyeuses" und 1780 "Le petit chansonnier". Der Inhalt und die leicht fasslich ansprechende Melodie machte diese Dichtungen bald außerordentlich beliebt unter dem Volke. Außer Béranger haben in unserem Jahrhundert [im 19. Jh.] noch mehrere Chansonniers Ruhm und Ansehen in Frankreich gewonnen. [Reissmann Handlexikon 1882, 75]

Chanson (1879)

Chanson, französisch, im Allgemeinen jedes singbare Gedicht, gleichviel ob epischer oder lyrischer Gattung. In diesem Sinne heißen in der älteren nordfranzösischen Poesie "Chansons de geste" jene größeren epischen Dichtungen, die von den Troubadours vorgetragen ("gesungen und gesagt") wurden.

Jetzt [um 1880] versteht man darunter ausschließlich ein lyrisches Gedicht, das etwa unserem weltlichen Lied entspricht, ein leichtes Lied, das einen Gedanken anmutig, heiter, witzig, naiv erfasst, Törichtes mit pikantem Spott geißelt, auch wohl zu leidenschaftlichem Kampfe anfeuert. Jede Strophe des Chansons hat einen Refrain. [Riewe Handwörterbuch 1879, 49]

Chanson (1865)

Chanson (von chanter, singen; italienisch: Canzona). Ein kleines lyrisches Singstück, ein Lied. Der Begriff des modernen französischen Chanson, den wir mit diesem Worte gegenwärtig [um 1865] zu verbinden gewohnt sind, füllt aber den unseres deutschen Liedes nicht ganz aus, sondern passt nur auf eine Art desselben. Erstens hat der [sic] Chanson stets nur strophische Melodie, unser deutsches Lied hingegen keineswegs immer; ferner ist er nicht subjektiver Gefühlserguss allein, sondern wählt gerne einen solchen Inhalt, der in epigrammatisch pointierten und zugespitzten Ausdruck sich kleiden lässt, zeigt seinen Gegenstand in jeder Strophe immer als ein neues und anders beleuchtetes Bild, am Schlusse derselben aber in einem durch eine feine und überraschende Wendung eingeführten Refrain stets den Grundgedanken betonend, wie wir es in einer ähnlichen Art unserer deutschen Lieder ebenfalls finden.

Es gibt Chansons auf alle Gelegenheiten des Familien- und öffentlichen Lebens, Chansons d'amour, à boire (Rondes de table), pastorales, rustiques, balladées oder pour danser (wie die Musetten, Gavotten, Bransles etc.), guerrières, patriotiques, religieuses, satiriques etc. Dass ein so verschiedener Inhalt eine ebenso mannigfaltige Modifikation der Ausdrucksweise zur Folge haben muss, ist selbstverständlich; der religiöse Chanson wird keine Witzpointe enthalten, während es im satirischen wesentlich auf eine solche ankommt. Der Begriff desselben lässt sich daher so genau nicht abgrenzen, mit oben Gesagtem ist nur eine am häufigsten hervortretende Eigentümlichkeit dieser Liedergattung bezeichnet.

In älterer Zeit ist der Ausdruck Chanson (sowie auch Lays) ganz allgemeine Benennung für kurze einfache Lieder, die vom Komponisten selbst oder von anderen Tonsetzern auch wohl mehrstimmig bearbeitet wurden. Solche Chansons kommen schon sehr frühe vor und sind auch aus dem 13. und 14. Jahrhundert (aus dieser Zeit jedoch nur als Tenor in kirchlichen Kompositionen der Niederländer), in einzelnen Überresten auch aus noch früherer Zeit aufbehalten. Vergleiche Rousseau, Dictionnaire, Artikel Chanson; Kiesewetter, weltliche Gesang, 1841. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 149]