Tabulatur (1882)

Tabulatur,
1) das Regulativ für die Gesänge der Meistersinger, welches sich aber nicht allein auf Musikalisches, sondern ebenso auf die Dichtung, sowohl dem Inhalt als der Form nach, erstreckte. Eine lebendige Vorstellung davon gewinnt man am schnellsten aus Richard Wagners Musikdrama "Die Meistersinger von Nürnberg".

2) Eine seit dem Beginn des vorigen Jahrhunderts [des 18. Jh.] veraltete Tonschrift, welche sich der Liniensysteme und Notenköpfe nicht bediente, sondern die Töne nur durch Buchstaben oder Zahlen bezeichnete. Da unsre Notenschrift auf Linien nur eine abgekürzte Buchstabentonschrift ist (der Bassschlüssel ist ein unkenntlich gewordenes F, der Altschlüssel ein c, der Violinschlüssel ein g), so ist es nicht verwunderlich, dass die Buchstabentonschrift mit A-G älter ist als unser Notensystem. Ihr Ursprung reicht mindestens bis ins 10. Jahrhundert zurück, wenn auch bestimmt nicht bis zu Gregor dem Großen, wie man früher annahm (vgl. Buchstabentonschrift).

Speziell für die Orgel und für das Klavier war diese sogenannte deutsche oder Orgeltabulatur besonders im 15. und 16. Jahrhundert in Deutschland allgemein üblich. Für andere Instrumente, besonders die Laute (siehe dort), hatte man eigene Buchstaben- oder Zifferntabulaturen, welche sich aber auf die Griffe bezogen und je nach Stimmung des Instruments verschiedene Tonbedeutung hatten.

Tabulatur (Riemann 1882)

Orgeltabulatur und Lautentabulaturen

Das Gemeinsame aller Tabulaturen ist eine eigentümliche Bezeichnung der rhythmischen Werte der Töne durch über die Buchstaben resp. Zahlen gesetzte Marken, nämlich: ein Punkt für die Brevis, ein Strich für die Semibrevis, eine Fahne (Häkchen) für die Minima, eine Doppelfahne für die Semiminima, eine Tripelfahne für die Fusa und eine Quadrupelfahne für die Semifusa.

Tabulatur (Riemann 1882)

rhythmische Wertzeichen in Tabulaturen

Dieselben Zeichen über einem Strich

Tabulatur (Riemann 1882)

Pausenzeichen

galten als Pausen.

Da die Tabulaturen schon im 16. Jahrhundert statt der Fähnchen bei mehreren einander folgenden Minimen etc. gemeinsame Querstrichelung anwandten, welche die Mensuralnotenschrift erst zu Anfang des 18. Jahrhunderts bekam, zum Beispiel:

Tabulatur (Riemann 1882)

Balken

und den Taktstrich durchweg gebrauchten, so sehen jene Tabulaturen unserer heutigen Notierung in mancher Beziehung ähnlicher als die Mensuralnotationen, besonders wenn sie, was auch vorkam, den Melodiepart auf ein Fünfliniensystem mittels schwarzer Notenköpfe aufzeichneten, mit denen die rhythmischen Wertzeichen verbunden wurden (vgl. Beispiel 1 ["Orgeltabulatur" in obiger Abbildung]).

Zahlreiche Druckwerke in Orgeltabulatur sind auf uns gekommen von Virdung, Agricola, Luscinius, Hans Gerle, Arnold Schlick, Jakob Paix, Amerbach, Bernh. Schmid, Woltz; ferner die Lautentabulaturwerke von Hans Judenkünig, Georg Neusiedler etc. Vgl. Kiesewetter, Die Tabulaturen der alten Praktiker, und von Wasielewski, Geschichte der Instrumentalmusik im 16. Jahrhundert (1878). Zur Veranschaulichung der Tabulaturen mögen nebenstehende [siehe oben] Beispiele dienen. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 897f]