Streichinstrumente (1882)
Streichinstrumente. Die heute allein in der europäischen Kunstmusik gebräuchlichen Streichinstrumente: Violine, Bratsche, Violoncello und Kontrabass sind das Schlussresultat einer vielleicht tausendjährigen langsamen Entwicklung. Sie sind sämtlich nach demselben Prinzip gebaut, wie schon ein flüchtiger Blick auf ihre äußeren Umrisse lehrt. Diese der Bildung eines edlen, vollen Tons günstigste Bauart wurde etwa zu Ende des 15. Jahrhunderts zunächst für die Violine gefunden und allmählich auf die größeren Arten der Streichinstrumente übertragen, so dass Cello, Bratsche und Kontrabass erheblich später die älteren Streichinstrumente, welche Violen hießen (Viola da braccio, Viola da gamba und Violone), verdrängten, wie im Artikel "Violine" dargestellt ist. Die Violen hatten eine größere Anzahl Saiten, demzufolge ein breiteres Griffbrett, hatten, wie heute die Guitarre etc., Bünde; die Form der Schalllöcher [F-Löcher] war eine andere, und die Proportionen der ganzen Bauart waren andre, vor allem waren die äußeren Umrisslinien weniger zierlich geschwungen, sondern plumper, mehr Kreisabschnitte darstellend. Ein Erfinder für die Abänderung der Bauart ist nicht nachweisbar, dieselbe ging nicht plötzlich, sondern allmählich vor sich. Als Vaterland der Verbesserung sind aber Oberitalien und Tirol anzusehen.
Wie alt die Streichinstrumente sind, ist bisher noch nicht recht festzustellen; doch sind keinerlei Beweise vorhanden, welche berechtigten, dieselben bis ins Altertum zurückzudatieren. Noch ist kein Denkmal aus vorchristlicher Zeit aufgefunden, welches die Abbildung eines Streichinstruments aufweist. Nach gewöhnlicher Annahme ist der Orient die Wiege der Streichinstrumente. Diese allgemein akzeptierte Angabe ist aber schlecht genug begründet, nämlich damit, dass die arabischen Musikschriftsteller des 14. Jahrhunderts (siehe Araber) die Streichinstrumente Rebab oder Erbeb und Kemantsche kennen. Obgleich nichts auf eine wesentlich frühere Existenz dieser Instrumente bei ihnen hinweist, hat man doch daraus geschlossen, dass das Abendland sie von den Arabern nach der Eroberung Spaniens erhalten habe, während auf der anderen Seite eine große Zahl Beweise vorhanden sind, dass seit dem 9. Jahrhundert, wo nicht länger, das Abendland Instrumente dieser Art kannte.
Es ist hier nicht der Ort, das Quellenmaterial ausführlich beizubringen; es genüge aber, darauf hinzudeuten, dass die älteste Abbildung eines Streichinstruments (bei Gerbert, "De musica sacra", II, wiedergegeben), eine einsaitige "Lyra", die dem 8. oder 9. Jahrhundert angehört, eine der späteren Gigue sehr ähnliche Gestalt aufweist, dass wir aus dem 10. Jahrhundert eine Abbildung der keltischen Chrotta (crewth) haben, und dass bereits im 11.-12. Jahrhundert mancherlei verschiedene Formen der Streichinstrumente nebeneinander bestanden. Wenn Rubeba, Rubella, resp. das noch ältere Rebeca von dem arabischen Rebab abstammen kann (das lässt sich gewiss nicht leugnen), ist dann nicht das Umgekehrte gerade ebensowohl möglich, wenn Anzeichen auf die umgekehrte Art der Übernahme deuten? Unter "Chotta" ist darauf hingedeutet, dass die Stammform des Worts crewth sein dürfte, woraus in verschiedenen Gegenden und Zeiten Chrotta, Rotta neben Rebec etc. wurde. Die Chrotta der Kelten ist nach Wegnahme des Bügels eine Viole mit eckigem Schallkasten, wie wir sie im 12. Jahrhundert treffen. Es hielten sich jahrhundertelang nebeneinander zwei prinzipiell verschiedene Formen der Streichinstrumente, von denen die (vermutlich minder alte) mit plattem Schallkasten aus der Chrotta hervorging, die andere mit mandolinförmig gewölbtem Bauch aber (die altdeutsche Fidula) wahrscheinlich germanischen Ursprungs ist. Auch das frühe Vorkommen der Drehleier deutet auf einen abendländischen Ursprung der Streichinstrumente.
Die ältesten Streichinstrumente hatten keine Bünde (siehe Rubebe und Viella); die Bünde tauchen erst zu einer Zeit auf, wo die nachweislich von den Arabern importierte Laute anfing, sich im Abendland auszubreiten, d. h. im 14. Jahrhundert, und um dieselbe Zeit erscheinen auch allerlei andre Wandlungen im Äußern der Streichinstrumente, welche den Einfluss der Laute verraten (große Saitenzahl, die Rose) und die sogar in der Entwicklung der Streichinstrumente einen entschiedenen Rückschritt bedeuten, da zum mindesten die Rose der Bildung eines kräftigen Tons durchaus hinderlich war (vgl. Schallloch).
Im 15.-16. Jahrhundert finden wir nebeneinander eine große Zahl verschiedener Arten großer und kleiner Geigen, die zum geringsten Teil Anwartschaft auf längere Dauer haben konnten und sämtlich von den Violineninstrumenten verdrängt wurden. Der Herausgeber dieses Lexikons hat den Streichinstrumenten mit vielen Saiten und mit Bünden den Namen Lautengeigen gegeben ("Allg. musikal. Zeitung", 1879, VIII), um für die konfuse Terminologie der Streichinstrumente im 14.-16. Jahrhundert einen festen Anhaltspunkt zu gewinnen. Zur Erklärung der so sehr verschiedenartigen äußeren Umrisse der Streichinstrumente älterer Zeit sei noch darauf hingewiesen, dass die Seitenausschnitte für diejenigen Streichinstrumente notwendig wurden, welche eine größere Saitenzahl (über 3) und demzufolge einen höher gewölbten Steg hatten; man ging in der Vergrößerung der Seitenausschnitte so weit, dass schließlich Instrumente zu Tage gefördert wurden, deren Schallkörper beinahe die Gestalt eines x hatte. Für die Instrumente mit höchstens 3 Saiten (die Rubebe hatte sogar nur 2 und einen Bordun) bedurfte es der Seitenausschnitte nicht, und sie behielten daher auch ihren birnenförmigen Schallkasten noch lange Zeit (siehe Gigue). [Riemann Musik-Lexikon 1882, 888f]