Musiklexikon: Was bedeutet Niederländische Schule?

Niederländische Schule (1929)

Niederländische Schule. Die [um 1930] neuere musikhistorische Forschung hat die Bedeutung der Niederländer in der Musikgeschichte nicht unerheblich eingeschränkt. Es hat sich herausgestellt, dass, bevor Cambrai in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts als Pflanzstätte gediegener Kunst hervortrat (vgl. Grenon, Dufay), eine die Pariser Ars antiqua des 12. bis 13. Jahrhunderts schnell verdrängende Ars nova von Frankreich (Machaut, Vitry, Cordier, Cesaris) aus sich seit 1300 über Italien (Florenz), Spanien (vgl. "Cancionero musical") und England (Dunstable, Benet, Power) verbreitet hat, die nicht niederländischen Ursprungs ist, vielmehr erst um 1425 von den Niederländern (Burgundern) aufgenommen wurde. Auch die komplizierten kanonischen Künste fanden bereits ihre Pflege in dieser vorniederländischen Kunst des 14. und 15. Jahrhunderts (vgl. "Caccia"), wurden aber allerdings besonders durch Ockeghem und seine Schüler weiter gesteigert.

Das historisch bedeutsamste Charakteristikum der Niederländischen Schule ist aber die Schöpfung des durchimitierenden A-Cappella-Stils um 1460 (vgl. Ockeghem, Obrecht). Die vorherrschende Rolle der Niederländer erreicht auch bereits nach der Mitte des 16. Jahrhunderts ihr Ende, wo mit dem Aufblühen der Venezianischen Schule und der Römischen Schule Italien wieder in markanter Weise die Führung übernimmt.

Die von dem Niederländischen Tonkünstlerverein preisgekrönten Schriften von Fétis und Kiesewetter (1829), unter deren Einflüssen noch Ambros' Darstellung der Epoche geschrieben ist (Bd. 2-3 seiner Musikgeschichte), fassten den Begriff Niederländische Schule viel zu weit, und mit Recht fordern jetzt [um 1930] Frankreich, Italien, Spanien, England und Deutschland ihren Anteil an der Blüte der Kunst zu Anfang des 15. Jahrhunderts. Unsere Übersicht unter Musikgeschichte hat daher hier eine wesentliche Umwandlung erfahren, welche in einer großen Anzahl Spezialartikel des weiteren motiviert ist. [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 1268]

Niederländische Schule (1882)

Niederländische Schule. Es ist Im Artikel Kanon gezeigt worden, auf welchem natürlichen Wege der gregorianische Gesang zur Mehrstimmigkeit geführt wurde. Bis in das 12. Jahrhundert hinein wurde diese überall aus dem Stegreif geübt. Die Kunst zu diskantisieren, d. h. dem Cantus firmus eine andere selbständige Stimme gegenüber zu stellen, war eine Disziplin des Gesangunterrichts. Die Gesangschüler lernten nicht nur die Gesänge des kirchlichen Ritus singen, sondern sie erhielten zugleich Anweisung, diese durch selbständige Stimmen zu kontrapunktieren. Diese Weise des Diskantisierens kam namentlich in Frankreich als Déchant und Dechantisieren in hohe Blüte und einzelne Sänger in Paris, wie Tapissier, Carmen und Cesaris zeichneten sich als Déchanteurs so aus, dass sie bei ihren Zeitgenossen höchste Bewunderung erregten. Die sogenannten Falso bordoni und Faux bourdons brachten die römischen Sänger aus Avignon nach Rom mit und die erhaltenen Proben von mehrstimmigen Gesängen aus dem 13. Jahrhundert geben den Beweis, dass in dieser Zeit schon gewisse feste Stützpunkte für die Entwicklung der Harmonik gewonnen waren.

Doch erst nachdem die Theoretiker aus diesen Experimenten gewisse feste Regeln für Verwendung der verschiedenen Intervalle auch als Zusammenklänge gewonnen hatten, wurde durch die niederländischen Meister diese ganze Entwickelung in bestimmte Bahnen geleitet, an Stelle der Improvisation das nach künstlerischen Prinzipien geformte Kunstwerk gesetzt. Guilelmus Dufay (gestorben 1432), der erste bedeutende Meister dieser Schule, der die Nachahmungsformen schon mit großer Freiheit zu behandeln versteht, wurde auch bahnbrechend für die Entwickelung der Mensuralnote. Seine frühesten Chansons sind noch mit der geschwärzten Note aufgezeichnet. Später bediente er sich der weißen und er gewann dann durch die ganze oder teilweise Schwärzung der Noten neue Mittel der Veränderung des Rhythmus. Von seinen kirchlichen Tonstücken sind nur wenige bekannt geworden, aber diese zeigen ebenso viel Meisterschaft in der Beherrschung des Materials, wie fromm religiöse Empfindung. Seine Chansons sind noch meist dreistimmig, seine Messen dagegen vierstimmig, mit zwei- und dreistimmigen Sätzen untermischt. Neben ihm und in seinem Sinne wirkten Egydius Binchois, Vincenz Faugues, Eloy, Anton Busnois, die namentlich die Nachahmungsformen mit größerem Eifer förderten. Ferner sind noch Hayne, Firmin Caron oder Carontis u. a. zu nennen. Einen ersten Abschluss in die technischen Künste dieser Schule brachte Johannes Ockeghem oder Ockenheim, der dadurch und durch den Einfluss, den er damit auf seine Zeitgenossen gewann, den Titel eines Fürsten der Musik zuerst erhielt (gestorben wahrscheinlich 1513). Er erscheint als der Gipfelpunkt der gesamten Theorie von Hugbald bis auf Johann de Muris und Marchettus von Padua. Am nächsten kommt ihm von seinen Zeitgenossen Jakob Hobrecht oder Obrecht, Obertus, Obreht (geboren 1430, gestorben 1507), der durch seine zahlreichen Messen und Motetten wie durch seine Lieder einen hervorragenden Platz in der Musikgeschichte gewann. Von den Schülern Ockenheims: Josquin de Prés, Antonius Brumel, Alexandre Agricola, Pierre de la Rue, Loyset, Compère, Gaspard, Verbonnet und Prioris ist Josquin (gestorben 1521) der bedeutendste, der der Schule eine neue Entwickelung begründete. Neben ihnen und den Schülern Josquins: Coclicus, Mouton, Arcadelt, Gombert, Isaak usw. sind noch eine ganze Menge von Zeitgenossen zu nennen, wie Johannes Ghiselin de Orte, Matthäus Pipelare, Nicolaus Craen, Lupus, Antonius Divitis und eine Reihe anderer, die im Sinne und Geiste der niederländischen Schule wirkten und ihr den ungeheuren Einfluss auf die Entwicklung der gesamten Musik mit sichern halfen, namentlich aber Antonius de Fevin, Eleazar und Genét, genannt Carpentras, Adrien Petit, genannt Coclicus, und Heinrich Isaak (Arrigo Tedesco) verpflanzten diese Weise der niederländischen Schule nach Deutschland, Willaert nach Italien, Certon, Clement Jannequin, Maillart, Bourgogne, Moulu nach Frankreich.

Wie sie dort in Italien in der venetianischen Schule und dann in der römischen neue Richtungen einschlug, ebenso wie in Deutschland, und dann in Palestrina und Orlandus Lassus ihre höchsten Ziele erreichte, und zugleich in Deutschland wieder in ganz neue Bahnen geleitet erscheint, ist hier nicht weiter zu erörtern. [Reissmann Handlexikon 1882, 318f]

Niederländische Schule (1840)

Niederländische oder Belgische Schule. Schon der älteste bekannte Schriftsteller, der Versuche mehrstimmiger Musik anstellte, war ein Niederländer, Hucbald, Mönch zu St. Amand. Im 14-ten Jahrhundert traten unter den Theoretikern und Lehrern die Niederländer als die vorzüglichsten auf. Im 15-ten und 16-ten Jahrhundert, dessen Schluss zugleich den Schluss dieser Epoche herbeiführte, verbreitete sich ihr Ruhm über ganz Europa. Die meisten wurden auf längere oder kürzere Zeit nach Italien berufen, um dort für ihre Kunst zu wirken. Durch Niederländer kamen um 1380 bis 1400 die ersten im Kontrapunkt geschriebenen Messen nach Rom. Dufay war um diese Zeit bei der päpstlichen Kapelle angestellt; Josquin wurde selbst päpstlicher Kapellmeister; Goudimel (aus Besonçon) wurde Stifter der Römischen Schule und Lehrer Palestrinas; Willaert der Stifter der ausgezeichneten Musikschule in Venedig; und so sind vom hochberühmten Ockenheim, dem Stammvater der niederländischen Schule und Begründer einer neuen Ära in der Musik, an, bis zum hochberühmten Orlandus Lassus, in dem Zeitraum etwa von 1450 bis 1590, aus dieser Schule diejenigen Meister hervorgegangen, welcher die Welt die ersten, in ihrer Art vollkommenen Werke des höheren Kontrapunkts geliefert, diese Kunst zuerst und unmittelbar durch Unterricht und Muster den übrigen zivilisierten Nationen mitgeteilt haben, kurz als die Schöpfer und vorzüglichsten Verbreiter der höheren Tonkunst zu betrachten sind. (Vergleiche Kiesewetters und Fétis Preisschriften).

Auch in neuester Zeit [um 1840] scheint sich der Genius der Musik auf Belgien niederlassen zu wollen; viele der ausgezeichnetsten Virtuosen in Paris sind geborene Belgier. Vergleiche auch Holland. [Gathy Encyklopädie Musik-Wissenschaft 1840, 327]