Figur, Figura (1865)
Figur, Figura.
I. Eine aus Auflösung melodischer Hauptnoten in Noten von verschiedenem geringerem Werte (Diminutionen) oder aus Anschluss mehrerer Nebennoten an eine Hauptnote auf einer und derselben harmonischen Grundlage entstandene Tongruppe. Werden die Hauptnoten eines nur aus solchen bestehenden Gesanges auf diese Art in Figuren aufgelöst, so sagt man, der Gesang sei figuriert (figuratus), nennt überhaupt die Schreibart, in welcher diese Auflösung der Hauptnoten durchaus oder doch vorwaltend stattfindet, die figurierte Schreibart oder den figurierten Stil. Das was wir Figuralgesang (figuralis) nennen, kann zwar auch figurierter Gesang sein, doch pflegt man mit diesem Worte (sowie mit dem gleichbedeutenden Mensuralgesang, mensuralis) speziell die in Noten von verschiedenem Wert sich bewegende mehrstimmige, im 12. Jahrhundert aufkeimende Setzart, zum Unterschiede von dem durchaus in Noten von gleicher Zeitdauer fortschreitenden Cantus planus (Choralgesang), zu bezeichnen. Deshalb soll man für die Art Figuration, um die es hier sich handelt, nicht den Ausdruck Figuralgesang, sondern nur figurierter Gesang oder Stil gebrauchen.Die Arten der Nebennoten, mit welchen eine Hauptnote umschrieben oder in welche sie diminuiert werden kann, sind im Artikel Nebennoten sowie in den eigenen gleichnamigen Aufsätzen erklärt. Erinnern wir nur, dass sie in nachschlagende harmonische Noten, Vorhalte, durchgehende und Wechselnoten zerfallen. Wenn nun z. B. die Noten c und d in Beispiel 1a, welche melodische Hauptnoten einer Folge zweier Sextakkorde sind, figuriert oder durch Nebennoten melodisch bereichert werden sollen, so können diese Nebennoten entweder
A. harmonisch nachschlagende sein (1b), deren Behandlung weiter nichts als Vermeidung fehlerhafter Quint- und Oktavparallelen (1c) voraussetzt. Doch hat diese Akkordfiguration keinen weiteren melodischen Wert, da sie nichts als Auseinanderlegung des harmonisch Zusammenklingenden ist. Im Gesang macht man auch keinen Gebrauch davon, nur in der Instrumentalmusik, wesentlich als Mittel, eine Bewegung herzustellen.
B. Oder es werden die melodischen Dissonanzen, nämlich Vorhalte, durchgehende und Wechselnoten mit den nachschlagenden harmonischen Noten untermischt angewendet, Beispiel 2.
Solcher Arten Figuren sind für jede Hauptnote und jedes Intervall, um welches die Hauptnoten voneinander entfernt sind, so viele möglich, als Auflösungen einer Note in kleinere Gliedteile der verschiedenen Ordnungen und melodische Progressionen von einer Note zur anderen. Gewisse dieser Figuren hat man als feststehende Verzierungen unter dem Namen Setz- oder Spielmanieren (siehe Manieren) angenommen, in neuerer Zeit [um 1865] aber ihren, namentlich im vorigen Jahrhundert [im 18. Jh.] sehr häufigen Gebrauch etwas beschränkt. Meist haben sie in der Hauptmelodie des Tonstückes ihre Stelle, wobei zu bemerken [ist], dass die Einheit und der Fluss des Gesanges zu häufige Anwendung ungleichartiger Gattungen derselben nicht gestatten, weil die Melodie sonst holprig, überladen und unverständlich wird. Auch in den Mittel- und Unterstimmen können sie, mit Geschmack verwendet, gute Wirkung machen. Gegenwärtig [um 1865] aber sind die Manieren, wie gesagt, auf sehr wenige reduziert, und wenn wir von einem Satze in figurierter Schreibart sprechen, denken wir auch gar nicht an eine nur mit Spielmanieren, Schwärmern, Rauschern u. dergl. Nebendingen mehr ausstaffierte Melodie, sondern an Fortschreitungen der Stimmen in ähnlichen Figuren und Progressionen, wie begleitende und kontrapunktierende Stimmen, die in laufenden oder rhythmisch gegliederten Fortschreitungen eine charakteristisch bewegte Grundlage der Hauptstimme bilden; oder an einen durch lebhafte melodische Bewegung in mancherlei rhythmischer Gestaltung noch ausdrucksvoller gemachten Gesang, entweder nur der Hauptstimme oder aller an dem Tonstücke beteiligten Stimmen. Im letzten Falle figurieren dann die Stimmen möglichst in verschiedenen Bewegungen, wodurch jede ihren besonderen Charakter erhält. Die verschiedenen Rhythmen gleichen sich dann aus und es entsteht (wie meist bei den Fugen) eine metrisch einheitliche Gesamtbewegung; oder es laufen auch mehrere Stimmen in gleichmäßiger Bewegung mit- und gegeneinander. Die Regeln, wonach man sich zu richten hat, sind die des Kontrapunktes, der melodisch selbständigen und sangbaren Stimmführung. Vor allem studiere man fleißig Bach und Händel, um das richtige Wesen der Figuration zu begreifen und das Urteil moderner Theoretiker, dass der figurierte Stil nicht mehr zeitgemäß sei, für eine aller Begründung ermangelnde Redensart zu erkennen.
II. Gleichbedeutend mit Redefigur, für eine besondere Form des Ausdruckes. So ist z. B. der Satz Beispiel 3 aus Grauns Tod Jesu eine bekräftigende Wiederholung; Beispiel 4 eine Steigerung; Beispiel 5 eine Parenthese.
Eine Klassifikation und nähere Beschreibung dieser den Redefiguren analogen Ausdrucksformen, die zwar der Sache nach in der Musik sehr gebräuchlich, wenn auch die in der Redekunst gewöhnlichen Benennungen nicht gerade allgemein üblich sind, findet man in der Einleitung zu Forkels Allgem. Gesch. der Musik I. 53.
III. Allgemeine Benennung der in der Notation gebräuchlichen Zeichen, als (insbesondere) der Noten, aber auch der Pausen, Schlüssel, Taktzeichen etc. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 302ff]