Manieren (1865)
Manieren, Spielmanieren, Setzmanieren, Broderies. Gewisse Ausschmückungen der Melodie, Verzierungen und Umschreibungen einer melodischen Hauptnote durch Nebennoten; verschiedene Arten Figuren, welche aus den mannigfaltigen Vermischungen harmonischer Nebennoten, durchgehender und Wechselnoten mit den Hauptnoten der Melodie entstehen.
Ursprünglich veranlasst ist diese Art, melodische Noten zu umschreiben und in Progressionen von kleineren, der Summe nach ihnen gleichgeltenden Zeitwerten aufzulösen, einenteils durch den Zeitgeschmack, anderenteils aber auch durch den Umstand, dass die Klangarmut der älteren Klaviere ein auch nur einigermaßen andauerndes Fortklingen länger auszuhaltender Töne unmöglich machte, daher der Spieler den Ton durch eine Figur, in welcher er wiederholt angeschlagen wurde, mehr zu fixieren versuchte. Diese um eine melodische Hauptnote sich herumbewegenden Figuren sind es besonders, die man unter dem Namen Manieren begreift.
Im Ferneren gilt die Benennung aber auch allen koloraturartigen Verzierungen einer Melodie überhaupt, als z. B. schnellen Läufen von einem Tone zu einem anderen entfernt liegenden, gebrochenen Gängen und Akkorden, sowie auch anderen Arten von Figuren, die nicht einen eigentlich melodischen Inhalt haben, mehr zum Schmuck und zur Belebung einer Tongruppe dienen und meist schnell vorgetragen werden, ohne gerade an den Takt gebunden zu sein. Man unterscheidet aber Setz- und Spielmanieren, nennt Setzmanieren solche Figuren, die vom Tonsetzer selbst in taktgemäßer Einkleidung vorgeschrieben und zwar ganz ausgeschrieben, nicht bloß durch ein Zeichen angedeutet werden, und eine gewisse bestimmte Form haben, wie z. B. in früherer Zeit die Laufer, Walzen, Rauscher, Schwärmer etc. und auch manche unserer heutigen Figuren ähnlicher Art. Spielmanieren hingegen nennt man solche Auszierungen der Melodie, welche nicht ordentlich in Noten ausgeschrieben und in den Takt eingeteilt sind, sondern entweder durch gewisse Zeichen angezeigt oder, wenn auch zuweilen durch kleine Noten dargestellt, so doch nicht in die Takteinteilung mit eingerechnet oder endlich auch gar nicht angegeben werden, sondern dem Befinden und Geschmacke des Ausführenden überlassen bleiben, der ihrer sich bediente um einen Gesang entweder zu beleben und zu bereichern, oder einen mehrmals zu wiederholenden Satz in immer veränderter Gestalt zu geben.
In Rücksicht auf solchen willkürlichen Gebrauch dieser Ausschmückungen beim Vortrag einer Solostimme, nahm man an, dass der Ausführende freie Hand habe, die vom Komponisten nicht völlig ausgemalten Stellen nach eigenem Vermögen und Geschmack zu kolorieren. Es kommt hierbei freilich darauf an, ob der Tonsetzer mit der nicht vollständigen Ausführung solcher Stellen die Absicht verbunden hat, dem Vortragenden Gelegenheit zu geben, sie selbst nach seiner eigenen Art auszufüllen, oder ob es der Mannigfaltigkeit und des Gegensatzes wegen geschehen ist, damit diese einfach gehaltenen und die danebenstehenden ausgeschmückten Partien, gleichsam als Schatten und Lichter, ihre Wirkung gegenseitig erhöhen sollen.
In heutiger Zeit [um 1865] liegt diese Frage überhaupt außer allem Betracht, denn jedes willkürliche Ausschmücken eines Tonsatzes durch den Vortragenden ist gänzlich abgekommen, und auch die vorgeschriebenen Manieren sind auf eine verhältnismäßig sehr geringe Anzahl beschränkt. Früher aber, und namentlich im vorigen Jahrhundert [18. Jh.], war sie von Wichtigkeit. Denn die Liebhaberei am verzierten Vortrage und besonders die durch den Zeitgeschmack unterstützte Eitelkeit der Virtuosen, denen darin günstige Gelegenheit geboten war, Fertigkeit und Geschmack zu zeigen, nahm es durchaus nicht immer zu genau mit den Absichten des Tonsetzers. Besonders im ersten Teil der großen Arie trat letzterer häufig genug völlig hinter den Sänger zurück, gab ihm eigentlich nur das Gerippe zum beliebigen Aufputz mit Koloraturen, Manieren und dergleichen. Geschick und Geschmack im Anbringen seiner Auszierungen wurden vom Sänger und Spieler allerdings gefordert, und es hatte ohne Zweifel seine Schwierigkeit, für die Repetition und ein etwaiges da Capo stets mit neuen Varianten versehen zu sein. Doch bot ihm ein gewisses Herkommen hierbei hilfreiche Hand, und mit einigem Vorrat von Manieren und einiger Geschicklichkeit, konnte er sich schon mit Anstand aus der Schlinge ziehen. Namentlich langsame Sätze erschienen am geeignetsten zur Entfaltung aller Arten von Vortragskünsten, die insbesondere solchen Virtuosen willkommen sein mussten, die nicht fähig waren, einen großen Ton zu ziehen, und einen einfachen und edlen Tongedanken entsprechend einfach und edel wiederzugeben; weshalb sie ihm dann zur Verdeckung eigener Schwäche allen möglichen Aufputz anklebten.
So wenig unser heutiger Geschmack an müßiger Auszierung Wohlgefallen finden kann, so muss man sich doch hüten, beim Vortrage älterer Werke etwa sämtliche angezeigte Spielmanieren ohne weiteres fortzulassen, namentlich nicht nur deshalb, weil die Fertigkeit mangelt, sie mit erforderlicher Rundung und Leichtigkeit vorzutragen. Denn sie können sowohl eine wesentliche Charaktereigentümlichkeit des ganzen Tonstückes sein, als auch gewisse einzelne Partien charakteristisch mehr ausprägen, mithin unmittelbar zum richtigen Ausdruck des Tongedankens gehören. Folglich ist man in solchen Fällen nicht berechtigt, sie zu verwerfen, weil sonst der musikalische Gedanke in seinem Wesen beeinträchtigt wird. Man wird ohnehin bemerken, dass die großen Meister sie in Tonstücken ernsteren fugierten Stiles ebenso sparsam als ausdrucksvoll zu verwenden gewusst haben, und nur in konzertierenden, phantastischen oder galanten Sätzen der Sitte ihrer Zeit mehr gefolgt sind. Übrigens fördert sorgfältige Übung der Spielmanieren, da höchste Rundung und Leichtigkeit zu ihrer Ausführung gehören, die Technik jedenfalls sehr erheblich. Also soll man, namentlich wer das Studium der Klavierwerke des Seb. Bachschen Zeitalters zu seiner Aufgabe macht, sie fleißig üben und mit Geschmack und Einsicht auch anwenden, wo sie hingehören.
Die einzelnen älteren Benennungen der Spielmanieren, von denen manche auch heute noch im Gebrauch sind, als: Triller, Vorschlag, Nachschlag, Mordent, Doppelschlag, Schleifer, Pralltriller, Bebung, Battement, das Durchziehen etc., sind in eigenen Artikeln kurz erklärt; hier folge eine allgemeine Übersicht der Zeichen mit ihrer daruntergesetzten Ausführung.
Die Zeichen 1-4 sind Trillerzeichen ohne Nachschlag, von unserem Triller dadurch verschieden, dass die oberhalb der Hauptnote liegende Nebennote voransteht, der Triller also gleichsam ein schnell wiederholter Vorhalt wird. Die Zeichen unter 2 und 4 kommen selbstverständlich eben wie mit dem ♭ so auch mit dem ♯ und ♮ vor; ebenso alle übrigen, bei denen Versetzungszeichen angewendet werden.
Unter 6 (Mordent, Beißer) haben die drei Zeichen a b c die gleiche Bedeutung d, bei halben Noten oder langsamem Tempo auch die Bedeutung e; das Zeichen c wie unter f geschrieben ist ein bloßer Vorschlag, g.
Das Zeichen 12 ist nach Marpurg mit dem Zeichen 11 (in Bachs Klavierbüchlein für Friedemann) übereinstimmend, die Manier aber bei ihm etwas feiner angegeben als bei Bach. Beim Zeichen 13 ist die Ausführung a nach Marpurg, b nach Bach.
Kommt das Zeichen 15 verbunden mit anderen Zeichen vor, z. B.
so sind beide zu spielen.Die drei Zeichen 23 a b c haben einerlei Bedeutung, d. Die vorschlagartigen Figuren, Herüberziehungen des vorangehenden oder Vorausnahmen des folgenden Tones, wie unter 20-26, heißen Accentus.
Vergleiche Friedr. Chrysanders Vorrede zur Ausgabe von S. Bachs Klavierwerken (Wolfenb. 1856), woselbst die Manieren nach S. Bach (Klavierbüchlein vor Wilhelm Friedemann Bach), Ph. Em. Bach (Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen), Türk und Marpurg (Klavierschulen) wie voransteht zusammengestellt sind. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 526ff]