Madrigal (1929)

Madrigal (Mandriale, vom italienischen mandra, "Herde"; Madriale), eine wahrscheinlich mit Recht von der Tradition auf die Pastoriten (Pastourellen) der provenzalischen Troubadours zurückgeführte Form der lyrischen Poesie der italienischen Klassiker des 14. Jahrhunderts (Dante, Petrarca, Boccaccio), die in knappem Rahmen (7-13 jambische Elfsilbler), anknüpfend an ein Naturbild, sich zu philosophischer Kontemplation konzentriert und damit durch ihren meist ernst-didaktischen oder auch satirischen Inhalt sich allerdings weit von den leichtlebigen Pastourellen entfernt.

Das Madrigal ist von Anbeginn mit Musik verwachsen, und zwar ist die Kompositionsform ähnlich der der Balladen und Rondeaux (siehe dort) eine zweiteilige mit Reprisen, nur für höchstens fünf Zeilen des Textes besondere Melodiephrasen bringende. Der älteste dem Namen nach bekannte Madrigalkomponist ist Dantes vor 1300 gestorbener Freund Pietro Casella (vgl. Carlo Perinello, Casella, 1904); die hervorragendsten Vertreter der Madrigalkomposition des 14. Jahrhunderts sind Giovanni da Cascia, Jacopo di Bologna, Paolo, Piero, Gherardello, Francesco Landino (siehe dort).

Mit diesem Madrigal des 14. Jahrhunderts hat das klassische Madrigal des 16. nichts zu tun, obwohl natürlich auch im 16. Jahrhundert die wenigen Texte in Madrigalform von Petrarca und Boccaccio häufig komponiert worden sind. Das klassische Madrigal ist um 1520 aus der Frottola (siehe dort) erwachsen, die sich durch eine mehr imitatorische Haltung und durch Textierung in allen Stimmen von selbst ins Madrigal verwandelt. Die neue poetische Grundlage des Madrigals ist ein freieres, nicht mehr balladesk oder strophisch geformtes Gebilde aus 7- und 11-Silblern in epigrammatisch pointierter Fassung. Neben diesem Madrigal im eigentlichen Sinn ist das Sonett, die Canzone, Terzinen, die Ottava rima usw. in Madrigalweise komponiert worden: Diese "literarische" Haltung des Madrigals schreibt sich hauptsächlich von Willaert her.

Die Entwicklung des Madrigals im 16. Jahrhundert lässt sich im Allgemeinen in drei Phasen darstellen. Die Hauptmeister der ersten sind Festa, Arcadelt, Verdelot; die musikalische Einkleidung folgt genau dem Text, die Haltung ist homophon, der Ausdruck von einer typischen ruhigen Sentimentalität, Vierstimmigkeit die Regel. Mit Willaert und Rore folgt eine zweite Phase, die sowohl die Kunstmäßigkeit wie den Ausdruck, vor allem die Absicht zu einer naiven und unmittelbaren Tonmalerei steigert. Es beginnen jene Freiheiten, die später, in der dritten Periode, bei Marenzio, Gesualdo, Monteverdi u. a. das Madrigal zum eigentlichen Versuchsfeld für alle Wagnisse neuen Ausdruckes gemacht haben. Fünfstimmigkeit wird hier die Regel; doch spricht das Madrigal sich jetzt in allen Formen aus (chöriges Festmadrigal, pseudomonodisches Madrigal usw.), benutzt Elemente der Canzone oder der französischen Chanson, ist überhaupt das Organ für den freiesten Kunstwillen der damaligen Zeit und beansprucht internationale Geltung - Lasso und Monte sind ebenso Großmeister des Madrigals wie die Gruppe der englischen Musiker, die allerdings bei den Texten ihrer Muttersprache bleiben und sich die italienische Form mit besonderer Schöpferkraft assimilieren.

Das 17. Jahrhundert verwandelte das mehrstimmige Madrigal in das monodische oder konzertierende Madrigal, das freilich der Kantate bald weichen musste. Doch ist das mehrstimmige Madrigal auch im 17. Jahrhundert nie ganz verschwunden und erlebte am Anfang des 18. Jahrhunderts noch eine archaisierende Nachblüte. In England blieb dank der Madrigal Society in London (gegründet 1741) der A-cappella-Stil bis heute [um 1930] beliebt. Von unseren neueren Chorliedern stehen nur die kunstvoller gearbeiteten auf dem Boden des Madrigals, die schlichter gesetzten gehören in eine Kategorie mit den Villanellen und Kanzonetten des 16. Jahrhunderts.

Eine grundlegende Bibliographie der Literatur des Madrigals und verwandter Formen in Italien lieferte Emil Vogel: Bibliothek der gedruckten weltlichen Vokalmusik Italiens [1500-1700] (1892, 2 Bde.), eine solche der gedruckten englischen Madrigalliteratur ist Rimbaults Bibliotheca Madrigaliana (1847); vgl. auch E. H. Fellowes, English Madrigal Verse, 1588-1632 (Textsammlung), 1920; derselbe, English Madrigal Composers (1921); derselbe, The English Madrigal (1925); auch O. Becker, Die englischen Madrigalisten W. Byrd, Th. Morley und J. Dowland. Beitrag zur Geschichte des weltlichen Chorlieds und dessen Pflege in England (Dissert. 1901). Ausgewählte Madrigale aus dem 16. und 17. Jahrhundert gab W. Barclay Squire bei Breitkopf & Härtel heraus (für den praktischen Gebrauch); das ganze Corpus englischer Madrigale hat E. H. Fellowes veröffentlicht; außerdem liegen in den Gesamtausgaben sämtliche Madrigale von Palestrina und Lasso vor; eine Gesamtausgabe der Monteverdis hat Fr. Malipiero begonnen (1927f.), eine solche der Marenzios und eine Teilausgabe der Montes durch A. Einstein steht [1929] bevor. Auch Torchis Arte mus. in Italia bringt viele Stücke. Vgl. Peter Wagner, Das Madrigal und Palestrina (Vierteljahrsschr. f. MW. 1892); Rud. Schwartz, Hans Leo Hasler unter dem Einfluß der italienischen Madrigalisten (Vierteljahrsschr. f. MW. IX, 1893); A. Sandberger, Ausgew. Aufsätze zur Musikgeschichte (1921); Theod. Kroyer, Die Anfänge der Chromatik im italienischen Madrigal des 16. Jahrhunderts (1902); Gaet. Cesari, Le origini del Madrigale cinquecentesco (1912 in der Rivist. mus. ital. und separat in deutscher Sprache 1908); A. Einstein, Das Madrigal (Ganymed 1921); derselbe in Adlers Handbuch der Musikgeschichte (1924). [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 1094f]