Canon (1865)
Canon [heutige Schreibweise: Kanon], kanonische Fuge, fuga canonica, legata, in conseguenza, integra, totalis. Ein kontrapunktischer Satz, in welchem mehrere bald nacheinander eintretende Stimmen denselben Gesang seiner ganzen Ausdehnung nach ununterbrochen nachahmen.
Ursprünglich wurde das aus dem Griechischen herübergenommene, Gesetz, Regel oder Richtschnur bedeutende Wort Kanon, gleichgeltend mit dem älteren Worte Fuge, zur Benennung einer und derselben Art von Tonsätzen gebraucht, der Kanon Fuga in consequenza genannt. Als aber die geschlossene Notierungsweise des Kanons (in einer Stimmzeile, siehe weiter unten) aufkam, in der man dem Ausführenden durch gewisse Zeichen eine Regel oder Richtschnur für die Vortragsweise zu geben pflegte, wurde, anfänglich nur für diese Bezeichnung, der Name Kanon eingeführt, allmählich aber auf die Sache selbst übertragen und für die hier zu beschreibende Setzart selbst gebraucht, während der Name Fuge speziell derjenigen Kunstform, welche wir heute noch darunter begreifen, verblieb.
"La Fuga legata adunque si dice anche Canone parola Greca che vuol dire Regola; ed il Canone come dice il Kirchero è quello ch'è scritto in una sola parte, si canta però da più voci, e questo succede per lo più col mezzo di alcuni segni, ma tutte queste, ed altre cose le potrà il Lettore osservare meglio ne' Autori che trattano di questa materia, onde non mi estendo altro sopra di questo«. Paolucci, arte pratica di Contrappunto, Venetia 1765, S. 160."Das Wort Canon will nichts anderes anzeigen oder bedeuten als eine Regel oder Richtschnur, weil man nemlich einen Canonem mit solchen Regeln und Anmerkungen aufsetzet, dass eine oder mehr Stimmen alle Figuren oder Noten, so in der ersten Stimme befindlich, nachhohlen, welche Anfangsstimme daher auch Guida oder der Führer genannt wird, weil sie gleichsam die Gänge der andern Stimmen anzeiget, leitet und führet, die dann Consequenti oder Folgende genannt werden" etc. J. M. Bononcini, Musicus practicus, Stuttgart 1701, S. 47.
Sethus Calvisius, Melopoeia sive Melodiae condendae ratio etc. Magdeb. 1630. Cap. 19: De fugis ligatis. Fuga ligata est, quae dum omnia accidentia cantus, quo ad tempus et figuras, observat, unico scripto Duce canitur. Inscribitur certo titulo, quem Canonem Musici vocant, quo et temporis intervallum, in quo comites Ducem consequuntur, et modus canendi indicatur etc.A. Der Kanon kann für zwei, drei, vier [und] auch mehr Stimmen gesetzt werden und heißt alsdann dementsprechend ein, zwei-, drei-, vier- und mehrstimmiger Kanon. Entweder sind alle in dem Satze vorhandenen Stimmen an der Führung des Kanons beteiligt oder nur einige und die anderen Begleit- oder Füllstimmen. In mehrstimmigen Sätzen kommt es vor, dass z. B. nur zwei Stimmen einen Kanon führen, während die übrigen freie Kontrapunkte sind. Und eben wie bei der periodischen und kanonischen Imitation kann auch im Kanon die Nachahmung in verschiedenen Intervallen vor sich gehen: je nachdem die nachfolgende Stimme (Risposta) die vorangehende (Proposta) im Einklang, oder in der Oktave, Sekunde, Terz etc. beantwortet, wird der Satz ein Kanon im Einklang, in der Oktave, Sekunde etc. genannt.
Am gebräuchlichsten sind der Kanon im Einklang und in der Oktave und auch nur diese allein können streng nachahmen, d. h. die Folge der ganzen und halben Töne, wie sie in der Proposta enthalten ist, auch in den beantwortenden Stimmen wiedergeben. Hingegen kann die Imitation der in anderen Intervallen, z. B. in der None oder Sekunde, Septime, Sexte etc. stehenden Kanons keine genaue sein, weil solche oftmals unleidliche Härten und zu weit vom Haupttone sich entfernende Modulation nach sich ziehen würde. Deshalb darf man bei diesen Arten der Nachahmung im Kanon der Versetzungszeichen sich bedienen, so dass also das betreffende Intervall wohl seiner Stufenzahl, nicht aber seinem genauen Inhalte nach imitiert wird.
Entweder besteht der Kanon aus nur einer fortfließenden Melodie, welche durch alle daran beteiligten Stimmen geht. Oder die Melodie gliedert sich in mehrere Sätze; oder es werden mehrere, zwei oder drei Melodien zugleich von zwei oder drei Stimmenpaaren nachgeahmt, so dass also ein zwei- oder dreifacher Kanon (Doppel- und Tripelkanon) entsteht. Ferner kann der Kanon endlich oder unendlich sein und, die Notierungsart anbelangend, geschlossen oder offen notiert werden. Außerdem sollen weiter unten noch einige künstliche Arten des Kanons genannt und beschrieben werden.
Einen einfachen Kanon im Einklang oder in der Oktave zu setzen, macht keine Schwierigkeit.
a) Der Kanon im Einklang für Stimmen von einerlei Gattung erfordert nicht einmal doppelten Kontrapunkt, denn wenn auch die Stimmen sich übersteigen, tritt doch kein Umkehrungsverhältnis ein.
b) Der Kanon in der Oktave für verschiedene Stimmengattungen muss hingegen im doppelten Kontrapunkt der Oktave abgefasst werden. Angelegt wird ein Kanon nicht anders als eine Imitation, d. h. man schreibt erst ein Motiv in eine Stimme, überträgt dieses dann in die zweite und führt in der ersten einen freien Kontrapunkt dagegen, alsdann setzt man diesen Kontrapunkt, der dem ersten Motiv melodisch gut sich anschließen muss, ebenfalls in die zweite Stimme, und fährt wiederum in der ersten mit Kontrapunktieren fort. Bei drei und vier Stimmen macht man es ebenso. Beispiel 1:Solchen Kanon kann man so lange fortspinnen als man Lust hat. Soll er enden, so wird ein Schluss gemacht, und diese Kanons, welche also, ohne wiederholt zu werden, bis zu einem bestimmten Schlusse fortgehen, nennt man
c) endliche Kanons. Man kann sie entweder ganz ohne Gliederung einrichten oder auch in eine arienartige Form bringen, indem man erst einen Kanon als Vordersatz etwa acht, zehn, zwölf oder mehr Takte lang anlegt und dann eine Kadenz macht, darauf ein anderes Motiv kanonisch oder imitatorisch als Mittelsatz und in einer anderen Tonart ausarbeitet, und endlich den Vordersatz wiederum in der Haupttonart repetiert.Ein Kanon kann aber auch so eingerichtet sein, dass er beliebig oft immer wieder von Anfang angefangen werden kann, ohne dass die Stimmen zu einem gemeinschaftlichen Schluss gelangen. Man pflegt dann, um nach einer gewissen Anzahl Wiederholungen ein Ende zu machen, entweder an einer passenden Stelle abzubrechen, oder es wird ein freier Schluss, der in den Einklang, die Oktav oder Terz ausläuft, angehängt. Solchen Kanon nennt man einen
d) unendlichen oder immerwährenden (canon infinitus, perpetuus); die kleinen bekannten Gesellschaftskanons sind von dieser Art. Beispiel 2:Entweder schreibt man den unendlichen Kanon in Partitur, wie in Beispiel 2 geschehen, und dann wird er ein
e) offener oder aufgelöster Kanon genannt (canon apertus, resolutes, canone in partito). Gewöhnlich aber pflegte man ihn nur durch die anhebende Stimme allein darzustellen, und zwar so, dass diejenigen Stellen, an welchen die nachfolgenden Stimmen hinzutreten sollen, mit dem Zeichen § angemerkt werden. In dieser Notierung heißt der Kanon ein
f) geschlossener Kanon (clausus, canone in corpo). Beispiel 3:Hier zeigt das erste Zeichen § den Eintritt der zweiten Stimme auf der letzten Note des zweiten Taktes und das zweite den Eintritt der dritten Stimme auf der letzten Note des vierten Taktes an. Sind bei einem Kanon nur zwei solche Zeichen vorhanden, so erkennt man daran, dass er nur dreistimmig ist, es sei denn, dass zu Anfang ausdrücklich bemerkt stehe, ob mehr und wieviel Stimmen den Satz vortragen können. So zeigt bei folgendem Kanon von Kirnberger (Beispiel 4) die Überschrift an, dass er sechsstimmig ausgeübt
werden kann.Die nachfolgenden Stimmen fangen den Kanon in gleicher Ordnung an, das heißt, eine jede beginnt, sobald die vorangehende das Zeichen erreicht hat. In nachstehendem achtstimmigen Kanon muss die Stimme unter a besonders als achte Stimme ausgeführt werden.
In sämtlichen voranstellenden Kanons ahmen die Stimmen im Einklang nach, soll jedoch Imitation in der Quart, Quint oder in einem anderen Intervall statthaben, und der Kanon ist geschlossen notiert, so wird dieses dadurch angezeigt, dass das Intervall, in dem die Nachahmung erfolgen soll, beim Eintrittszeichen der folgenden Stimme angemerkt wird. Und zwar über dem Liniensystem, wenn die Nachahmung um das betreffende Intervall höher, und unter dem Liniensystem, wenn die Nachahmung um das betreffende Intervall tiefer vorgenommen werden soll. Beispiel 6 ist ein Kanon in der oberen Quart, unter a in geschlossener Notierung, unter b in Partitur ausgeschrieben.
Wenn der Sänger bei Ausführung eines in einem anderen Intervall als der Einklang abgefassten Kanons keine ausgeschriebene Stimme, sondern die geschlossene Notierung erhält, so muss er transponieren oder aus einem anderen Schlüssel lesen. Daher bedient man sich bei solchen Kanons, statt der Bezeichnung des Intervalles durch eine Ziffer, sehr oft auch verschiedener Schlüssel, von denen der zweite die Noten um ebenso viel tiefer oder höher darstellt, als die Nachahmung in der folgenden Stimme vor sich gehen soll. Will man den Kanon in der Unterquinte, Beispiel 7a, auf diese Weise darstellen, so hat man ihn wie unter b zu notieren.
Von der gewöhnlichen abweichende Nachahmungsarten müssen mit Worten angemerkt werden. Also wenn z. B. die Nachahmung in veränderten Notenwerten oder auf anderem Taktteil vor sich gehen soll; oder wenn der Kanon nach seiner ordentlichen Auflösung etwa noch im doppelt verkehrten Kontrapunkt auszuüben ist (letzteres zeigt man auch durch verkehrte Schlüssel am Ende des Systems an). Nicht selten aber pflegte man ehedem auch alle Zeichen, welche den Ausführenden als Anhaltepunkte für den Vortrag dienten, fortzulassen und das Auffinden der Vortragsart seiner Einsicht anheimzustellen, wobei es auch wohl vorkam, dass man ihn irre zu führen suchte, jedenfalls aber die Auflösung nicht erleichterte. Ein solcher ohne alle Zeichen geschlossen notierter Kanon wird
g) Rätselkanon (canon aenigmaticus) genannt. Man hat unter Rätselkanon also keine besondere Art des Kanons sich vorzustellen, sondern nichts als die soeben beschriebene Notierungsweise. Jeder geschlossen notierte Canon wird durch Hinweglassung der Zeichen zu einem Rätselkanon.B. In den voranstehenden Beispielen wurde stets ein fortlaufender melodischer Satz nachgeahmt, die Melodie des Kanons kann aber auch in mehrere Sätze sich teilen, deren jeder von dem anderen durch einen merklichen kadenzartigen Einschnitt geschieden ist. Ein solcher Kanon heißt mehrsätziger Kanon. Wenn z. B. in einem dreistimmigen Kanon, dessen Melodie in drei solche Teile gegliedert ist, die erste Stimme den ersten Satz vorgetragen hat, so fährt sie mit dem zweiten fort, während die zweite Stimme mit dem ersten Satze hinzutritt. Haben beide ihre Sätze, die erste Stimme die beiden ersten und die zweite den ersten, vollendet, so tritt die dritte Stimme mit dem ersten Satze ein, während die zweite den zweiten und die erste den dritten ausführt. Ein solcher Kanon ist ebenfalls leicht auszuarbeiten und bedarf gleichfalls keines doppelten Kontrapunktes, wenn er für Stimmen derselben Gattung im Einklang abgefasst werden soll. Nehmen Stimmen verschiedener Gattungen daran teil, wodurch Umkehrungsverhältnisse entstehen, so muss er im doppelten Kontrapunkt der Oktave eingerichtet werden. Angelegt wird ein mehrsätziger Kanon im Einklang folgendermaßen: Man schreibt unter gleichen Schlüsseln einen dreistimmigen Kontrapunkt (alle drei Stimmen untereinander), dessen Stimmen selbständig melodisch geführt und der Bewegung nach voneinander verschieden sein müssen und nicht alle zugleich anfangen dürfen. Nachstehendes, zwar schon öfter abgedruckte Beispiel von Caldara möge doch dazu dienen, eine nähere Anschauung davon zu geben, weil es wenig Raum gebraucht.
Nun schreibt man diese drei Kontrapunkte in oben angegebener Weise in Partitur aus, also zuerst alle drei nacheinander in die Oberstimme, dann in der zweiten Stimme den ersten unter den zweiten (in der Oberstimme) und in der dritten wiederum den ersten unter den zweiten in der zweiten Stimme. Hier geschieht es nicht, aus Raumersparnis und weil man diesen Kanon auch in Albrechtsberger (Anweisung zur Composition) und in J. C. Lobe (Lehrbuch der musikalischen Composition Bd. III) vollständig in Partitur gesetzt vorfinden kann. Wenn die dritte Stimme alle drei Sätze vorgetragen hat, so kann man den Kanon abschließen. Die zweite Stimme hat alsdann den ersten Satz, und die erste Stimme die beiden ersten Sätze wiederholt, während die dritte Stimme alle drei Sätze nur einmal enthält. Doch könnte der Kanon, als unendlicher Kanon, auch beliebig lange fortgehen, da es jeder Stimme freisteht, die drei Sätze immer wieder von vorne anzufangen. Unter Beispiel 9 folgt derselbe Kanon noch in geschlossener Notierung. Beim vierstimmigen Kanon im Einklang wird dasselbe Verfahren beobachtet.
Vom Kanon in anderen Intervallen als Einklang und Oktave mögen hier nur einige Beispiele stehen. Beispiel 10 in der Sekunde; Beispiel 11 in der Unterseptime; Beispiel 12 in der Oberterz; Beispiel 13 in der Unterquinte.
Bei mehr als zweistimmigen Kanons ahmen alle Stimmen entweder in demselben Intervall oder in verschiedenen Intervallen nach. Im ersten Falle werden sie Kanons in gleichen Intervallen, im zweiten vermischte oder Kanons in ungleichen Intervallen genannt. Im vermischten Kanon kann also der Gesang von der zweiten Stimme z. B. um eine Quint, von der dritten um eine Septime und von der vierten um eine Undezime tiefer imitiert werden. Beispiel 14:
C. Einige besondere Arten des Kanons, von denen einzelne allerdings jedes musikalischen Wertes ermangeln, sind folgende:
1) Der Zirkelkanon (canon circularis per tonos), ein unendlicher Kanon von solcher Einrichtung, dass er bei jeder seiner Wiederholungen um eine Sekunde, Terz, Quarte oder ein anderes Intervall höher oder tiefer versetzt wird und somit nach und nach alle Transpositionen der Dur- oder Molltonart durchlauft, bis er endlich in die Haupttonart wieder zurückkehrt. Bei Abfassung der Melodie hat man nur darauf zu sehen, dass sie am Ende in diejenige Tonart, in welche sie transponiert werden soll, gut und fließend überleite. Hat man über das Intervall, in welchem der Kanon den Tonzirkel durchlaufen soll, sich entschieden, so ist nichts weiter zu tun, als ihn beständig in demselben Modulationsverhältnisse fortzutransponieren. Am gewöhnlichsten sind die Zirkelkanons in der Quint und Quart. Beispiel 15 ist ein Kanon in der Unterquart (von Kirnberger), der Eintritt der neuen Tonart ist durch + angedeutet. Steigt eine Stimme zu tief oder zu hoch, so versetzt man bei der Wiederholung das anhebende Intervall um eine Oktave höher oder tiefer.Dieses Beispiel genüge, um vom Zirkelkanon überhaupt einen Begriff zu geben; drei- und vierstimmige Sätze dieser Art kann man in Marpurg, Abhandl. von der Fuge, finden. Ebenda (S. 158 der Dehnschen Ausgabe) ist auch noch eine andere Art Zirkelkanon beschrieben, worin der Zirkel nicht aus transponierten Wiederholungen eines kurzen Satzes besteht, sondern aus einer langen, nach Ordnung der steigenden Quinten die Töne durchlaufenden Melodie.
2) Kanon in der Gegenbewegung, rückgängigen Bewegung und rückgängigen Gegenbewegung. Die Bewegungsarten selbst sind von der Imitation her bekannt (die der Gegenbewegung in einem eigenen Artikel beschrieben) und hier nur auf den Kanon angewandt zu denken. Die völlige Überflüssigkeit solcher kleinen Kunststückchen, in denen eher von allem anderen als von Musik die Rede ist, macht nähere Beschreibung und Beispiele unnötig. Nachlesen kann man darüber bei Marpurg, a. a. O., S. 159.
3) Kanon in der Augmentation und Diminution, in der Vergrößerung und Verkleinerung. Die nachahmende Stimme trägt, eben wie bei der gleichartigen Imitation, den Gesang in Noten von doppeltem oder halbem Zeitwert vor. In Beispiel 16 ahmt die Risposta die Proposta in der Vergrößerung und zugleich in der Gegenbewegung nach.
Man sieht, der Gesang ist so eingerichtet, dass er während der Nachahmung in der Vergrößerung zweimal vorgetragen werden kann, indem er sonst notwendigerweise nicht ausreichen würde, da die Augmentation doppelt so lang ist. Will man dasselbe Beispiel gleich in der Diminution dargestellt haben, so braucht man es nur an der mit + bezeichneten Stelle anzufangen, um die obere Stimme als Verminderung der unteren erscheinen zu lassen. Beispiel 17:
4) Ferner gibt es Kanons, in denen entweder die Proposta oder die Risposta oder beide zugleich terzenweise mitlaufende Nebenstimmen zulassen. Ebenso kommt Imitation in vermischtem Taktteil (per arsin et thesin) vor. Der polymorphische (vielgestaltige) Kanon lässt mehrere, oft sehr viele, verschiedene Auflösungen zugleich zu, als: Versetzung in Gegenbewegung und rückgängige Bewegung, Augmentation und Diminution, Beantwortungen im Einklang und in anderen Intervallen, mit verschiedenen mehr oder weniger vom Anfang entfernten Eintritten der nachahmenden Stimmen, Hinzufügung terzenweiser Parallelen u. dergl. mehr. Man kann hierüber bei André (Lehrbuch der Tonsetzkunst Bd. II. Abth. II. S. 208ff.) und Marpurg (Abhandl. v. d. Fuge S. 163) nachlesen. Und über das ebenfalls hierher gehörende Labyrinth siehe André, a. a. O. S. 275ff. In Betreff des musikalischen Wertes solcher Künste bedarf man wohl keiner weiteren Aufklärung.
5) Musikalisch weitaus bedeutender, übrigens auch schwieriger herzustellen als jene Künsteleien, ist der Doppelkanon (canon duplex). Er besteht aus gleichzeitiger Verbindung zweier verschiedenen Kanons in verschiedenen Intervallen und kann der Form nach endlich, auch unendlich sein. Ausgearbeitet wird solcher Doppelkanon in ganz ähnlicher Weise wie ein einfacher. Man erfindet ein Motiv und schreibt es in die beginnende Stimme, überträgt es alsdann, in dasjenige Intervall versetzt worin es nachgeahmt werden soll, in eine andere Stimme, und zwar nach so viel Pausen als diese mit der Beantwortung später einzutreten hat. Darauf kontrapunktiert man in der ersten Stimme weiter und überträgt diesen Kontrapunkt gleichfalls in die zweite Stimme. Alsdann setzt man ein zweites neues, vom ersten rhythmisch und melodisch verschieden gebildetes Motiv, als Motiv des zweiten Kanons, in die dritte Stimme, und überträgt es darauf in die noch nicht besetzte vierte Stimme, kontrapunktiert in der dritten weiter und fügt auch diesen Kontrapunkt der vierten Stimme hinzu. Selbstverständlich muss das Motiv des zweiten Kanons so eingerichtet sein, dass es sowohl in der dritten als vierten Stimme mit den beiden ersten Stimmen eine gute Harmonie bildet. Ist man mit dem zweiten Kanon so weit gediehen, so kehrt man zum ersten zurück, um an diesem die Arbeit weiter fortzusetzen. Pausen, welche die Proposta des ersten oder zweiten Kanons macht, müssen in der Risposta ebenfalls genau eingehalten werden. Die Intervalle, in welchen die Nachahmungen erfolgen sollen, kann man von vorne herein beliebig wählen, muss sie jedoch alsdann auch, ohne zu wechseln, durch den ganzen Kanon festhalten. Als Beispiel folge der Anfang eines schönen Doppelkanons aus einer durchaus kanonischen Messe von Fux, der zwar dem Kanon in seinem Gradus ad parnassum keine Beschreibung hat zu Teil werden lassen, demungeachtet ihn doch sehr geschätzt hat und Meister darin gewesen ist, wie man schon aus diesem Beispiele sehen muss. Bass und Alt führen den ersten, Tenor und Sopran den zweiten Kanon; jeder der beiden Kanons ist in der Oberoktave geführt, während der zweite zum ersten in der Oberquinte steht.
In vielstimmigen Tonstücken älterer Zeit, namentlich des 16. Jahrhunderts, kommt es sehr oft vor, dass ein Kanon von nur zwei Stimmen geführt wird, während die übrigen Stimmen entweder frei oder mit Imitationen dagegen kontrapunktieren. Der Kanon liegt häufig in den beiden Oberstimmen, wird aber auch ebenso gut von zwei Mittelstimmen oder von der Ober- und einer Mittelstimme vorgetragen.
6) Der Kanon mit Cantus firmus oder Choralkanon ist endlich zwar die schwierigste, aber auch zugleich die bedeutungsvollste Gattung kanonischer Setzart. Entweder führt eine Stimme den Choral und zwei andere umgeben ihn mit einem Kanon, dessen Motiv ebenso gut frei gewählt, als aus dem Choral selbst gebildet sein kann. Oder es wird die Choralmelodie selbst im Kanon geführt, wobei Abänderungen der Melodie gestattet sind, da nicht eine jede hierzu geeignet ist. Es dürfen die Werte der Noten vermehrt oder vermindert und ungleich gemacht werden, doch selbstverständlich keine Umbildungen statthaben, die den Charakter der Melodie beeinträchtigen, auch wenn diese ausgeschmückt und etwas figuriert wird. In S. Bachs größeren und kleineren Choralvorspielen (Bd. V, VI und VII der Petersschen Ausgabe seiner Orgelwerke) sind die wundervollsten Beispiele, namentlich der letzten Art, in der der Choral selbst im Kanon imitiert und von anderen, entweder frei oder meistenteils ebenfalls in imitierenden Figuren sich bewegenden Stimmen umgeben wird, zu finden. Und Studium guter Beispiele nützt auch in dieser Setzart mehr als die ganze Masse Regeln, welche einzelne Theoretiker dafür gegeben haben. Über die kanonische Nachahmung für 2 Chöre siehe A cori battenti.
D. Im Lehrgang folgen die Übungen im Kanon am besten auf den doppelten Kontrapunkt und gehen der Fuge voraus, wenngleich man in manchen Lehrbüchern den Kanon zuletzt, erst nach der Fuge, vorgetragen findet. Man wird ihn aber sehr leicht bewältigen, wenn die Satzfertigkeit durch den doppelten Kontrapunkt geübt ist, im Ferneren aber auch für die Fuge erheblichen Nutzen daraus ziehen können, denn auch die kanonische Kunst findet in der Fuge eine wertvolle Verwendung. Und die Kunst kanonischer Stimmführung steht, wie man nicht anders sagen kann, höher als der Kanon als geschlossene selbständige Kunstform, ungeachtet auch hierin viel Interessantes und Bedeutendes geleistet ist. Denn die strenge Gebundenheit, in der die Stimmen einander nachzufolgen genötigt sind, lässt eine freie Entfaltung des Gedankens und der Form nicht zu. Deshalb hat der Kanon, vom ästhetischen Gesichtspunkte aus betrachtet, einen immerhin nur beschränkten Kreis, als Ausdruck von Empfindungen, die in sich so fertig und beschlossen sind, dass sie von mehreren Personen in völliger Übereinstimmung ausgesprochen werden können. Eine ordentliche Entwickelung wie die Fuge hat aber der Kanon eigentlich gar nicht. In der Fuge ist zwar auch der eine Gedanke das alles Übrige Bedingende, dennoch aber die ganze Durchbildung eine bei weitem freiere und mannigfaltigere als im Kanon. Die volle Übereinstimmung eben, welche alle Stimmen im Kanon beherrschen muss, lässt keine derselben zu einer selbständig individuellen Entfaltung, welche wir doch vom polyphonen Tonsatz ganz besonders fordern, gelangen. Überdies ist große Geschicklichkeit im Tonsatz erforderlich, wenn die Schwierigkeit der Form wirklich besiegt und ihr der Stempel musikalischer Schönheit und Bedeutung aufgedrückt werden soll. Für die Fuge ergibt sich eine unzweifelhaft bei weitem höhere ästhetische Geltung als für den Kanon. Denn in ihr durchleben wir eine allseitige Entwickelung und Austragung des Gedankens, dessen vollkommene Einheitlichkeit doch wiederum durch die Nachahmung und wesentlich thematische Durchbildung überhaupt aufrecht erhalten bleibt, ungeachtet ein bei weitem freieres Stimmenleben und eine viel bedeutungsvollere Gruppierung der ganzen Form, selbst in der strengsten Art der Fuge, sich entfaltet.
Nichts desto weniger ist die Kunst des kanonischen Tonsatzes von unzweifelhaft großem Wert, und tüchtige Übung desselben wird jederzeit großen Nutzen nach sich ziehen, und schon die wirklichen Meisterwerke, welche in dieser Kunstgattung vorhanden sind, sollten vor Unterschätzung oder gar Verwerfung derselben bewahren. Dass wir in der Praxis der Tonsetzkunst um krebsgängige und Spiegelkanons oder polymorphische Rätsel uns nicht zu bemühen brauchen, bedarf wohl kaum einer weiteren Auseinandersetzung. Die Perioden vor und namentlich nach Bach und Händel liebten es, mit solchen kleinen Kunststücken mehr als billig sich zu beschäftigen, und namentlich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts [des 18. Jh.] war die Liebhaberei für künstliche Kanons zu einer wahren Manie ausgeartet. Möglich dass diese Zeit, da es ihr an Schöpferkraft gebrach, jene beiden Meister im Geiste fortzusetzen, wenigstens an ihre Kunsttechnik sich halten und versuchen wollte diese zu überbieten, dabei aber, statt jene zu erreichen geschweige denn zu übertreffen, mehr als zu oft in kleinliche Äußerlichkeit verfiel. Man halte sich daher an die einfacheren Arten des Kanons, die auch mit wirklich kunstmäßigem Wert sich herstellen lassen, und achte mehr auf gesangreiche und ausdrucksvolle Melodie und klangvolle Harmonie als auf Gegen- und krebsgängige Bewegung oder polymorphische Verwandlungen. Von den künstlichen Gattungen verdienen nur der Doppelkanon und der Choralkanon eine sorgfältige Pflege, in diesen eine Meisterschaft zu erreichen, ist der Mühe schon wert. Literatur: […]. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 124ff]