Ouvertüre (1929)

Ouvertüre(französisch: Ouverture, italienisch so viel wie Apertura, englisch: Overture), Eröffnungsstück, Einleitung, besonders einer Oper (siehe dort). Die ersten Musikdramen hatten keine Ouvertüre, sondern begannen gleich mit einem rezitativischen Prolog, Monteverdis Orfeo mit einer vom vollen Orchester dreimal hintereinander gespielten kurzen Tokkata von starrer, aber immerhin glänzender Haltung mit unverändert festgehaltener C-Dur-Harmonie. Allmählich gingen die Komponisten dazu über, eine kurze Sonate (Canzon da sonar) oder eine einfache Sinfonia (im Pavanenstil) an die Spitze der Oper zu setzen.

Das einseitige Interesse der Historiker für die Oper hat zu einer starken Überschätzung der Bedeutung geführt, welche die kleinen Instrumentaleinleitungen und Zwischenspiele der Opern für die Entwickelung der Formen der Instrumentalmusik gehabt haben. Durch das ganze 17. Jahrhundert hindurch und auch noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind die Opernsinfonien nur Nutzanwendungen der außerhalb der Oper entwickelten Formen, und zwar bis auf wenige Ausnahmen wie die zwei Ouvertüren zu St. Landis Santo Alessio (1634; vgl. Riemann, Handbuch der MG. II, 2, S.253ff) mit starker Einschränkung sowohl bezüglich der Ausdehnung als des Inhalts mit Rücksicht auf ihre Bestimmung. Dieser Rücksicht entstammt die schließlich sich allgemein festsetzende Einhaltung der Dreizahl der Teile statt der bunt wechselnden Teilgruppierungen der außerhalb der Bühne gepflegten Sonatenkomposition.

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurden zwei Formen des dreisätzigen Opernvorspiels typisch: Lully stellte vor einen fugierten Allegrosatz eine pathetische Einleitung, die am Schluss (meist abgekürzt oder nur angedeutet) wiederkehrte (französische Ouvertüre). Alessandro Scarlatti begann mit einem nicht fugierten Allegrosatz, stellte einen langsamen Satz in die Mitte und kam zum Schluss auf den Allegrocharakter zurück (italienische Sinfonie). Die französische Ouvertüre war, mit dem starken Pathos des einleitenden und abschließenden Largo und der gediegenen Arbeit des fugierten Mittelteils, der italienischen Sinfonie durchaus überlegen und schlug sie auch außerhalb der Oper als Konzertmusik aus dem Felde. Es ist wohl zu beachten, dass um 1680 die glänzenden Erfolge der Lullyschen Orchesterdisziplin überall zur Nachahmung spornten, dass in London, Dresden, Hannover, Bayreuth usw. in Paris geschulte Violinisten engagiert wurden, dass eine eigentliche Orchestermusik sich entwickelte und öffentliche Konzerte eingerichtet wurden.

Neben die deutsche Suite (siehe dort), welche zwar schon seit 1639 (Hammerschmidt) zwischen die Tänze gelegentlich Stücke französischer Herkunft einfügte (Airs) und seit 1650 als Anfangsnummer eine schlichte Sinfonia in Liedform oder auch in der Form der italienischen Sonate annahm (Sonata da camera), trat jetzt als sieghafte Rivalin die in Nachbildung der aus Lullyschen Bühnenwerken ausgezogenen Ballettsuiten mit Ouvertüre durch die deutschen Schüler Lullys (Kusser 1682, Georg Muffat, Johann Fischer) entstandene Orchestersuite mit französischer Ouvertüre, die somit nicht als eine neue Entwicklungsstufe der deutschen Suite angesehen werden kann (vgl. Riemann, Handbuch der MG. II, 2, S. 447). Am richtigsten unterscheidet man die (seit Froberger die neue Satzfolge: (Sonate) Allemande, Courante, Sarabande und Gigue zeigende) deutsche Suite als typisch werdende Form der Kammermusik, von der Ballettsuite mit französischer Ouvertüre als typisch werdende Form der Orchestermusik. Aus der großen Zahl der Vertreter der Komposition von Orchestersuiten mit französischer Ouvertüre seien noch genannt: Erlebach, Aufschnaiter, Scheiffelhut, J. J. Fux, Telemann, Reinichen, Schiefferdecker, J. Fr. Fasch, J. Chr. Förster, Joh. Phil. Krieger, Schweitzelsperger, J. M. Molter, J. S. Endler, Niedt, J. S. Bach, Händel, Schaffrath, K. Fr. Abel, Schale, J. Pfeiffer usw.

Die Suite mit französischer Ouvertüre beherrschte bis um 1750 die Orchesterkonzertmusik in einem Maße, dass man sich wundern muss, wie das von der neueren Geschichtsschreibung solange ganz übersehen werden konnte (es sind auch Fälle in größerer Zahl bekannt, dass in Deutschland italienische Opern mit einer Lullyschen Ouvertüre statt der Sinfonie eingeleitet wurden; die italienischen Oratorien hatten zumeist französische Ouvertüren). Erst gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts kam allmählich die Form der italienischen Opernsinfonie auch außerhalb der Oper zu Ansehen mit allmählicher Vertiefung ihres Gehaltes durch Händel, Hasse, Galuppi, Jommelli, K. H. Graun, Gluck u. a. Die Produktion von direkt als Konzertmusik geschriebenen Sinfonien dieser Art steigt gegen 1750 plötzlich sehr stark (Graupner, J. G. Graun, Wagenseil, Ph. E. Bach, G. Benda usw.). Was die Sinfonien dieser Zeit formell sowohl gegenüber der französischen Ouvertüre als auch der älteren italienischen Sonate charakterisiert, ist die Ausscheidung der Fugenarbeit aus dem ersten Satz, der mehr und mehr zur Einhaltung der zweiteiligen Liedform mit Reprisen übergeht. Doch ist der Sieg der Sinfonie über die Ouvertüre erst entschieden mit dem Auftreten von Johann Stamitz, welcher der Sinfonie das Menuett einfügte und dem ersten Satz die vollentwickelte Sonatenform gab. Der Name Ouvertüre blieb aber in England für die Konzertsinfonie allgemein gebräuchlich bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts (z. B. noch für Haydns Sinfonien). Die französische Ouvertüre verschwindet mit dem Auftreten Glucks, der seinen späteren Operneinleitungen die ausgeführte Sonatenform gibt, auch für die Oper vollständig, und Ouvertüre ist fortan ein Werk von der Form des ersten Satzes der Sinfonie, des Quartetts, überhaupt der Sonate. Über die Entwicklung dieser Form siehe Sonate. Vgl. H. Riemann, Die französische Ouvertüre zu Anfang des 18. Jahrhunderts (Mus. Wochenblatt 1899); K. Nef, Zur Geschichte der deutschen Instrumentalmusik in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts (1902) und H. Prunières, Notice sur l'origine de l'ouverture française (Sammelb. d. IMG. XII, 4) und desselben L'opéra italien en France avant Lully (1913).

Die heutigen Ouvertüren [um 1930] zerfallen hauptsächlich in drei streng zu unterscheidende Arten:

  1. die Ouvertüre in Sonatenform mit zwei (oder auch drei) im Charakter verschiedenen Themen, welchen meist eine kurze, langsame Einleitung pathetischen Charakters vorangeht und die nach einer mehr oder minder ausgedehnten Durchführung wiederkehren (es fehlt also gegenüber der vollständigen Sonatenform nur die Wiederholung der Exposition vor der Durchführung). Diese Form ist mehr oder minder streng eingehalten bei den sogenannten Konzertouvertüren, aber auch bei der Mehrzahl der Opernouvertüren, welche nicht aus Themen der Opern zusammengestückt sind.
  2. die potpourriartige Ouvertüre, welche ohne eine andere Absicht als eine auf Effekt berechnete Steigerung und kontrastierende Ordnung der Themen die zugkräftigsten Nummern der Oper in mehr oder minder vollkommener Gestalt aneinanderhängt (Rossini u. v. a.).
  3. die motivisch mit der Oper zusammenhängende, aber in sich selbst nach musikalischen Bildungsgesetzen ausgestaltete und abgerundete Ouvertüre (sinfonischer Prolog), sei es nun, dass der Komponist den Grundgedanken der Oper in gedrängter Gestalt ausführt, die Gegensätze aufstellt und versöhnt oder auch unversöhnt lässt, oder aber, dass er auf die Exposition des Werks, die ersten Szenen, vorbereitet. Auch die nicht als Einleitung einer Oper, sondern als vorbereitende Musik eines Schauspiels gedachte Ouvertüre, die dessen Stimmungsgehalt voraus andeutet oder vorbereitet, gehört hierher, wenn sie nicht die unter 1) angedeutete Form einhält, sondern nach Art der sinfonischen Dichtungen frei gestaltet ist.

Vgl. R. Wagner, Über die Ouvertüre (Ges. Schr. 1) und H. Botstiber, Geschichte der Ouvertüre und der freien Orchesterformen (Leipzig 1913). [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 1323f]