Musiklexikon: Was bedeutet Motiv?

Motiv (1929)

Motiv nennt man in der Musik wie in der Architektur die letzten charakteristischen Glieder eines Kunstgebildes. Fr. Nietzsche hat sehr treffend das musikalische Motiv als die "einzelne Gebärde des musikalischen Affekts" definiert. Ein Motiv ist in der Tat ein fest zur Einheit der Ausdrucksbedeutung zusammengefasstes Melodieglied. Der Anfang von Beethovens Sonate op. 7 ist, je nachdem man die Motive liest, wie bei a) oder wie bei b), lahm oder kühn anspringend:

Motiv (Einstein 1929)

Motive in Beethovens Sonate Opus 7

Im ersteren Falle haben wir zu Anfang zwei abwärts gerichtete Melodieschritte (g-es, b-g) als Inhalt der Motive, im zweiten Fall zunächst g als erste Aufstellung, dann den Ansprung es-b und weiter den noch lebendigeren g-b-es. Abwärts gerichtete Schritte kommen bei der zweiten Leseweise gar nicht vor, da die zwischen den Grenztönen der Motive befindlichen Intervalle als solche gar nicht aufgefasst werden, tote sind. Bei a) wird nicht das das zweite Motiv beginnende b an das endende es angefügt, sondern es tritt dem das erste Motiv beginnenden g gegenüber; bei b) vergleichen wir nicht das es, sondern das b mit dem beginnenden g. Die Gesten sind also gelesen wie bei a) abwärts gerichtete (negative), die nur immer höher anfangen, bei b) aufwärts gerichtete, die immer höher ansteigen. Die Wichtigkeit der Phrasierungslehre ist schon aus dieser kurzen Andeutung ersichtlich.

Füllt ein Motiv einen aus zwei oder drei wirklichen Zählzeiten bestehenden Takt, so dass sein Schwerpunkt jedes Mal ein Taktschwerpunkt ist, so heißt es Taktmotiv; ist der Schwerpunkt des Motivs nur eine Zählzeit (d. h. füllt es nur die Zeit einer Zählzeit), so heißt dasselbe Unterteilungs- oder Figurationsmotiv. Verwachsen mehrere Taktmotive fest zur Einheit der Ausdrucksbedeutung, so nennt man das dadurch entstehende größere Gebilde eine Phrase. In solchem Falle sind die Intervalle zwischen den Motiven nicht völlig tote, aber doch von untergeordneter Bedeutung in Vergleich mit den eigentlich Motive bildenden. Die selbstverständliche dynamische und agogische Vortragsweise ist zunächst durchaus Steigerung bis zur Schwerpunktsnote und diminuendo gepaart mit anlehnender Dehnung für die Endungen:

Motiv (Einstein 1929)

Dynamik/Agogik in Motiven

Mehr über diese grundlegenden Begriffe siehe in H. Riemanns System der musikalischen Rhythmik und Metrik (1903). Th. Wiehmayer in seiner Musikalischen Rhythmik und Metrik (1916) leitet das Motiv aus den verschiedenen Klangfußformen ab. Vgl. Leitmotiv. [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 1215]

Motive (1882)

Motive nennt man in der Musik wie in der Architektur die letzten charakteristischen Glieder eines Kunstgebildes.

Man spricht zunächst von rhythmischen Motiven, zum Beispiel ist das rhythmische Hauptmotiv des ersten Satzes der A-Dur-Symphonie von Beethoven

Motiv (Riemann 1882)

rhythmisches Motiv

das des ersten Satzes der C-Moll-Symphonie

Motiv (Riemann 1882)

rhythmisches Motiv

Nicht immer decken sich rhythmisches Motiv und Metrum wie hier, das rhythmische Motiv kann zum Beispiel zweiteilig sein bei dreiteiliger Taktart etc., dann treten durch das Metrum bedingte verschiedenartige Akzentuierungen des Motivs ein, zum Beispiel bei Beethoven (Sonate Op. 14, 2):

Motiv (Riemann 1882)

Motiv (Beethoven)

wo die Akzentuierung

Motiv (Riemann 1882)

Motiv, Akzente und Phrasierung

notwendig ist (vergleiche Metrik und Rhythmik), da das rhythmische Motiv in der Phrasierung herausgehoben, vor allem aber erst der Takt kenntlich gemacht werden muss.

Melodische Motive nennt man im Verlauf eines Themas mehrfach wiederkehrende Stimmschritte, welche dem Thema ein charakteristisches Gepräge geben. Dieselben sind besonders bei Variationen von Bedeutung, da sie bei Veränderung des Taktes und der Rhythmik die eigentlichen Repräsentanten des Themas sind.

Endlich unterscheidet man noch harmonische Motive, d. h. Akkordverbindungen, die transponiert in anderen Tonlagen wiederkehren und wie die rhythmischen und melodischen Motive als lebendige Glieder des Kunstgefüges hervortreten.

In den seltensten Fällen aber arbeiten die Komponisten mit Motiven, die nur in einer Hinsicht charakteristisch sind. Besonders pflegen Melodik und Rhythmik sich zu verbinden, während die harmonische Behandlung der Motive wechselt.

Motive ausgeführterer Arten, d. h. nicht mehr kleinste Glieder thematischer Bildung, sondern eigentlich schon selbst Themen, zusammengesetzt aus einer Anzahl einfacher Motive, sind die sogenannten Leitmotive (siehe dort). [Riemann Musik-Lexikon 1882, 605]