Kantate, Cantata (1882)
Kantate (italienisch: Cantata), "Singstück", [ähnlich] wie Sonate eigentlich nichts anderes bedeutet als Instrumentalstück. Aber wie der Name Sonate allmählich eine feststehende Bedeutung erlangte, so ist's auch mit der Bezeichnung Kantate gegangen, nur mit dem Unterschied, dass alle älteren Bildungen, denen einmal der Name Kantate beigelegt wurde, auch heute noch bei Feststellung des Begriffs der Kantate berücksichtigt werden, während es niemand mehr einfällt, ein simples, kurzes Präludium noch Sonate zu nennen.
Wir verstehen heute unter Kantate ein aus Sologesängen, Duetten etc. und Chorsätzen bestehendes größeres Vokalwerk mit Instrumentalbegleitung. Die Kantate unterscheidet sich vom Oratorium und der Oper durch Ausschluss des epischen und dramatischen Elements. Ein gänzlicher Ausschluss des letzteren ist freilich nicht möglich, da auch die reinste Lyrik sich gelegentlich zu dramatischem Pathos steigert. Am klarsten und zweifellosesten ist die Kunstform auf dem Gebiet der Kirchenmusik ausgebildet (Kirchenkantate). Hier hat J. S. Bach Typen von höchster Kunstschönheit in großer Anzahl geschaffen, von denen eine Definition nicht schwer zu geben ist. Danach ist die Kantate die Ausprägung einer Empfindung, einer Stimmung durch verschiedenartige Formen, die in dieser Einheit der Stimmung ihren höheren Zusammenhalt finden. Der Sologesang einzelner Stimmen in der Kirchenkantate führt nicht verschiedene Personen für sich redend ein, sondern auch sie reden im Namen der Gemeinde. Ihre Subjektivität ist zwar eine individuell gefärbte, aber doch die Subjektivität einer großen Allgemeinheit. Darum bilden auch die Ensemble- und Chorsätze, besonders aber die Choräle, den eigentlichen Kern der Kirchenkantate. Die verschiedenen Stimmcharaktere eines Duetts, Terzetts heben sich nicht schärfer gegeneinander ab, sondern heben einander auf.
Halten wir diese Definition der Kantate auch für die weltliche Kantate aufrecht, so erscheinen freilich sehr viele Werke nicht als Kantaten, die von ihren Urhebern als solche bezeichnet sind. Wir finden auf der einen Seite Werke, die völlig dramatisch angelegt sind und von der Oper sich hauptsächlich durch kürzere Dauer und das Fehlen der Szene unterscheiden. In neuester Zeit [2. Hälfte des 19. Jahrhunderts] ist für solche Gestaltungen der Name lyrische Szene mit Glück eingeführt worden. Auf der anderen Seite stehen Werke von entschieden epischem Charakter, in denen ein Handlung überwiegend in erzählender Form sich abspinnt. Sind solche Stücke großartig angelegt und behandeln sie biblische, heroische oder antike Stoffe, so ist der Name Oratorium der beliebteste und bessere, für die biblischen oder doch religiösen auch wohl Legende. Für romantische Sujets, besonders in knapperer Behandlung, ist dagegen die Benennung eine sehr schwankende und ungewisse, die Komponisten sind immer in einiger Verlegenheit und vermeiden schließlich jede Rubrizierung auf dem Titel gänzlich. Hier ist nun einzig die leider für größere Formen fast ganz abgekommene Bezeichnung Ballade am Platz. Für die Kantate bleibt dann freilich scheinbar nicht viel übrig, bei näherer Betrachtung tragen aber doch immer noch eine stattliche Anzahl von größeren Gesangswerken mit Recht den Namen Kantate. So ist zum Beispiel Liszts Komposition des Schillerschen "An die Künstler" eine richtige Kantate, desgleichen Brahms' Triumphlied und Schicksalslied, Beethovens "Hymnus an die Freude" zum Schluss der neunten Symphonie u. v. a., besonders alle Festkantaten. Werke wie die Komposition der Schillerschen "Glocke" (Romberg, Bruch) sind freilich schwer zu klassifizieren. Sie gehören keiner der genannten Kunstformen eigentlich an, sondern sind aus Elementen verschiedener gemischt, ähnlich wie Bachs Passionsmusiken: Diese sind zugleich Oratorien und Kantaten, jene Szenen, Balladen und Kantaten.
Historisch war Cantata zuerst kurz nach Erfindung der begleiteten Monodie (1600) der Name für ausgedehntere Sologesänge, in denen arioser Gesang in dramatischer Weise mit rezitativem abwechselte. Doch war wohl dieser Wechsel zunächst nicht etwas mit dem Namen Kantate in Rapport Gesetztes, sondern nur die natürliche Folge der längeren Ausdehnung der Stücke, und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird eine strengere Scheidung der Arie und Cantata noch nicht durchführbar sein. Carissimi führte den Namen Kammerkantate (Cantata di camera) zur Unterscheidung von der indes aufgekommenen Kirchenkantate (Cantate di chiesa) ein. Doch blieben beide noch längere Zeit überwiegend in engerem Rahmen, führten statt einer zwei oder drei Singstimmen mit Continuo und einer oder zwei obligaten Begleitstimmen ein, entbehrten aber durchaus noch der charakteristischen Merkmale der heutigen großen Kantate, des Chors und des Orchesters. Noch Dietrich Buxtehude (gestorben 1707) hat einzelne Kantaten für nur eine Singstimme geschrieben. Die weltliche große Kantate entwickelte sich zuerst als Festkantate zu Hochzeitsfeiern, Huldigungen etc., die kirchliche nicht unter ihrem Namen, sondern unter dem des Kirchenkonzerts. J. S. Bach hat die Mehrzahl der Kantaten, die er anders als mit dem Textanfang benannte, als Konzerte bezeichnet, damit auf die wesentliche Rolle hindeutend, welche darin die Instrumente spielen. Vergleiche Anthem und Villancicos. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 436ff]