Harmonium (1882)

Harmonium ist jetzt der ziemlich allgemein gebräuchliche Name für die erst in diesem Jahrhundert [19. Jh.] aufgekommenen orgelartigen Tasteninstrumente mit frei schwingenden Zungen ohne Aufsätze, die sich von dem älteren Regal hauptsächlich dadurch unterscheiden, dass sie eines ausdrucksvolleren Spiels (Crescendo) fähig sind. Der erste Erfinder, Grenié (1810), nannte daher das Instrument Orgue expressif, während andre, die ähnliche Instrumente selbständig konstruierten oder die schon erfundenen verbesserten, dafür die Namen Äoline (Klaväoline), Äolodikon, Physharmonika (Häckel 1818), Aerophon, Melophon etc. aufstellten.

Den Namen Harmonium gab A. Debain in Paris seinen 1840 patentierten Instrumenten, die zuerst mehrere Register aufweisen. Von unwesentlicher Bedeutung sind: die Einführung der Perkussion (Hammeranschlag) der Zungen behufs präziserer Ansprache, das "Prolongement" (Befestigen einzelner Tasten in herabgerückter Lage), der doppelte Druckpunkt (double touche), d. h. verschiedene Tonstärke, je nachdem die Tasten tiefer heruntergedrückt werden etc. Dagegen haben die Amerikaner eine vollständige Revolution des Baues des Harmoniums hervorgebracht durch Einführung des Einsaugens der Luft durch die Zungen, statt des Ausstoßens. Vergleiche Amerikanische Orgeln.

Der Umstand, dass bei Zungenpfeifenklängen die Obertöne, Kombinationstöne, Schwebungen etc. sehr laut und leicht wahrnehmbar sind, hat einerseits das Harmonium zu einem Lieblingsinstrument für akustische Untersuchungen gemacht, ist aber andrerseits der Verbreitung desselben als Hausinstrument entschieden hinderlich. Dissonanzen wie der verminderte Septimenakkord klingen wirklich schlecht auf dem Harmonium. Es ist darum nicht zufällig, dass Versuche, die reine Stimmung einzuführen, gerade am Harmonium zuerst praktisch angestellt und probat gefunden wurden. Ohne Zweifel vermag ein Harmonium, das innerhalb der Oktave 53 verschiedene Tonhöhen gibt, mildere Klangwirkungen zu erzeugen als ein temperiertes mit nur 12 (siehe Helmholtz, Lehre von den Tonempfindungen, 4. Aufl., S. 669, ferner Engel, Das mathematische Harmonium …; vergleiche auch die Tabellen unter "Tonbestimmung" und "Temperatur"). Allein der schöne Gedanke, in dieser Weise nur absolut reine Musik zu machen, ist nicht nur aussichtslos, sondern auch aus weitergehenden ästhetischen Gründen nicht akzeptabel (vergleiche Stimmung (reine), Enharmonik und Temperatur). [Riemann Musik-Lexikon 1882, 367f]