Charakter der Tonarten (1929)

Charakter der Tonarten. Der verschiedene Charakter der Tonarten hängt nicht von der ungleichartigen Temperatur der Töne ab (nämlich C-Dur als am reinsten gestimmt gedacht), auch nicht von der absoluten Tonhöhe (nach welcher z. B. As-Dur heller klingen müsste als G-Dur und A-Dur dunkler als B-Dur, während das Gegenteil der Fall ist), sondern beruht vielleicht auf der Vorstellung des Aufbaues unseres Musiksystems. Die beiden vorzugsweise die sieben Stammtöne der Grundskala A-G benutzenden Tonarten C-Dur und A-Moll erscheinen als schlichte, einfache, weil sie am einfachsten vorzustellen sind. Die Abweichungen nach der Obertonseite (#-Tonarten) erscheinen als eine Steigerung, als hellere, glänzendere, die nach der Untertonseite (♭-Tonarten) als Abspannung, als dunklere, verschleierte. Dazu kommt die Verschiedenheit der ästhetischen Wirkung der Durtonart und Molltonart selbst, welche in der Verschiedenheit der Prinzipien ihrer Konsonanz wurzelt (siehe Klang); Dur klingt hell, Moll dunkel. Die Durtonarten mit Kreuzen haben daher einen potenzierten Glanz, wie die Molltonarten mit Been potenziert dunkel sind. Eigenartige Mischungen beider Wirkungen sind das Helldunkel der Durtonarten mit Been und die fahle Beleuchtung der Molltonarten mit Kreuzen. Die Wirkung bis zu einem gewissen, nicht einheitlich bestimmbaren Grad wächst mit der Zahl der Vorzeichen.

Natürlich existieren für den der Notenschrift nicht Kundigen diese Unterschiede nicht und bleiben nur die Unterschiede der absoluten Tonhöhe übrig. Da aber im Allgemeinen die Wahl der Tonart einen wesentlichen Bestandteil der Konzeption des Komponisten ausmacht, so ist nicht ausgeschlossen, dass rückwirkend von den Tonstücken aus auch für der Notenschrift gänzlich Unkundige Vorstellungen vom Charakter der Tonarten sich bilden, welche mit den oben erklärten sich einigermaßen decken. Vgl. D. Schubart, Ästhetik der Tonkunst (1806), Gottfr. Weber in der Cäcilia Bd. 5 (1828), Berlioz, Traité de l'instrumentation (1839), R. Hennig, Die Charakteristik der Tonarten (1897), H. Stephani, Der Charakter der Tonarten (Regensburg 1923). [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 299]