Vielle (1929)

Vielle (französisch), italienisch: Lira tedesca (deutsche Leier) oder Ghironda ribeca, Stampella, Viola da orbo, englisch: Hurdy-gurdy, die Drehleier, auch Bettlerleier, früher Bauernleier (Lyra rustica, Lyra pagana) genannt, ein seltsames Saiteninstrument von hohem Alter, das sich einst großer Beliebtheit erfreute und im 10.-12. Jahrhundert vielleicht eine ähnliche Rolle gespielt hat wie heute [um 1930] das Klavier.

Die Konstruktion der Vielle ist heute noch beinahe genau dieselbe wie vor 900 Jahren: ein Resonanzkörper, welcher dem der Streichinstrumente ähnlich ist, darüber mehrere Saiten gespannt, von denen eine (oder zwei im Einklang gestimmte) durch eine Klaviatur verkürzt werden, während die anderen zwei (oder vier, zu zweien im Einklang gestimmt) frei liegen und stets nur dieselben Töne geben (eine Quinte im Bass, wie bei der Musette). Ein durch eine Kurbel in Umlauf gesetztes Rad, das mit Harz bestrichen ist, bringt stets sämtliche Saiten gleichzeitig zum Tönen.

Der älteste Name des Instruments ist Organistrum (10.-12. Jahrhundert). Wir besitzen eine Anleitung für die Mensur und Anbringung der Tasten des Organistrums aus dem 10. Jahrhundert (vgl. Gerbert, Script. I.); danach hatte das Instrument einen Umfang von acht Tasten (eine Oktave). Die besten Instrumente des 18. Jahrhunderts gehen bis zu zwei Oktaven (chromatisch). Etwa im 12.-15. Jahrhundert hieß die Vielle Armonie oder Symphonie, korrumpiert Chifonie, ja Zampugna, Sambuca, Sambuca rotata, im 15. Jahrhundert, wo sie in Misskredit kam, wurde ihr in Frankreich der Name Vielle beigelegt, der vorher ein Streichinstrument (die Viola) bezeichnet hatte. Virdung (1511) hält die Vielle, die er einfach Lyra nennt, nicht einer Beschreibung für wert, und Praetorius (1618) spricht mit Verachtung von ihr ("Bawren- oder umblaufende Weiber-Leyer").

Die Vielle gelangte aber zu Anfang des 18. Jahrhunderts gleichzeitig mit dem Dudelsack (siehe Musette) noch einmal zu außerordentlicher Beliebtheit, besonders in Frankreich: Virtuosen auf der Vielle traten in Konzerten auf (Laroze, Janot, Baton, Chédeville, Hotteterre u. a.), es erschienen Schulen für die Vielle (Bonin und Corrette), Instrumentenmacher verbesserten das Instrument (Baton sen., Pierre und Jean Louvet, Delaunay, sämtlich zu Paris; Lambert zu Nancy, Barge zu Toulouse), Komponisten schrieben für es Sonaten, Duette usw. (Aubert, Baptiste, Boismortier, Baton, Chédeville) und Schriftsteller sangen sein Lob (Terrasson). Heute [um 1930] ist es wieder zum Bettlerinstrument herabgesunken und scheint sich zu verlieren. Vgl. H. Lapaire, Vielles et cornemuses (1901) und E. de Bricqueville, Notice sur la Vielle (2. Aufl. 1921). [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 1938]