Neumen, neuma, pneuma (1882)

Neumen (von νεῦμα [neuma], der Wink, nach anderen von πνεῦμα [pneuma], der Hauch) wurde früher in mehrfacher Bedeutung gebraucht: als Bezeichnung für gewisse Tonphrasen, die auf dem letzten Vokal eines Wortes gesungen wurden und zugleich auch für die Tonzeichen, mit denen die Gesänge notiert wurden.

Mit der Einführung des Christentums in den verschiedenen Ländern, unter den Völkern verschiedener Zungen, wurde auch die neue Weise des Gesanges, die sich unter dem Einflusse der christlichen Welt- und Lebensanschauung namentlich in Rom seit Gregor d. Gr. schon zu reicher Blüte entwickelt hatte, verbreitet. Allein diese Völker mussten meist erst zu dieser neuen Art zu singen erzogen werden. Es war zunächst geradezu notwendig, sie von der Beteiligung beim Kultusgesang auszuschließen, nicht nur weil die ihnen unbekannte römische oder lateinische Sprache bei diesem ausschließlich zur Anwendung kam, sondern weil ihnen die neue Art des Gesanges meist ganz ungewohnt sein musste. Jedoch war die Kirche zugleich früh bemüht, das Volk zu diesem Gesang zu erziehen und so wurden jene Neumen - als Vokalisen - zunächst kurze melodische Tonphrasen auf die Vokale a-e-i-o-u im Kirchengesang üblich, welche an das vom Volke gesungene "Kyrie eleison" und "AIleluja" anknüpfen, an denen das Volk die Stimme aussang, die dann in ihrer Erweiterung zu wirklichen Ergüssen religiöser Begeisterung wurden (longus. sonus jubilationes) und aus denen die Sequenzen - kirchliche Gesänge - sich entwickelten (siehe dort).

Diese selbständige Entwickelung des Gesanges machte dann weiterhin das Bedürfnis einer eigentümlichen selbständigen Notenschrift rege und aus diesem ging zunächst die Neumenschrift hervor. Die Fizierung der Töne durch Buchstaben, wie sie aus der griechischen Musikpraxis in die christliche übergegangen war, stellte jeden einzelnen Ton fest, aber sie gab kein Bild von dem Gange der Melodie, von ihrem Steigen oder Fallen, von ihrer Bewegung nach oben oder unten. Es war nicht nur Rücksicht auf das Gedächtnis des Sängers und die Sorge um die Erhaltung und Verbreitung der Gesänge, welche die neue Notenschrift erzeugte, denn diesem allen genügten die Buchstaben vollkommen; sondern der melodische Zug war so bedeutsam geworden, dass man diesen mit zu fixieren bemüht war und hierbei zunächst selbst die Deutlichkeit und Sicherheit der antiken Notenzeichen aufgab. Ganz natürlich verging eine lange Zeit, ehe hierin nur einige Übereinstimmung erreicht wurde. Die Sänger und Tonlehrer verfuhren dabei gewiss Jahrhunderte hindurch mit größter Freiheit, da wohl kaum einer unter ihnen von der Idee, eine allgemeine Notenschrift auch nur anbahnen zu helfen, geleitet wurde. Jeder einzelne Lehrer war nur darauf bedacht, die betreffenden Gesänge für sich und seine Schüler, oder das Kloster und die Kirche, denen er diente, zu notieren, unbekümmert um die Bedürfnisse anderer Kirchen, Schulen und Klöster.

Dennoch wurden eine Reihe dieser Tonzeichen allmählich von der Gesamtheit angenommen und erreichten Allgemeingültigkeit, wenn auch einzelne unter ihnen noch verschiedene Deutungen zulassen. Am frühesten gewannen die beiden einfachsten Grundformen (simplex neuma) allgemeine Gültigkeit, der Punctus oder Punctum als Zeichen für die Kürze und die Virga als Zeichen Tür die Länge. Diese beiden Zeitwerte behielt bekanntlich auch der Cantus planus bei und es erscheint ebenso sinnreich wie natürlich, dass sie in der angegebenen Weise notiert wurden. Die Virga wurde sowohl stehend wie liegend angewendet, um den Gang der Melodie zu bezeichnen. Die Wiederholung eines Tones wurde selbstverständlich durch Wiederholung desselben Zeichens angedeutet, und zwar auf gleicher Höhe. Stand der zweite Punkt tiefer, so wurde mit ihm ein tieferer Ton angedeutet. So waren mit diesen beiden Zeichen schon eine Reihe von Tonfiguren zu fixieren.

Mit der wachsenden Zahl der Gesangfiguren wuchsen auch die verschiedenen Notenzeichen, und dies führte zu Verwirrungen, die man durch verschiedene Hilfsmittel zu beseitigen suchte. Namentlich machte die Bestimmung der Tonhöhe große Schwierigkeiten und Romanus, ein Sänger aus der römischen Schule, der im 8. Jahrhundert nach St. Gallen kam, führte deshalb Buchstaben ein, mit denen er die Neumen näher zu bezeichnen suchte. Weit praktischer war das einfache Verfahren, durch eine, später durch zwei Linien die Stellung dieser Notenzeichen sicherer zu bestimmen. Man zog eine rote Linie quer über die Seite, welche den Ton f bezeichnete und alle Neumen, die über der Linie standen, waren höher; tiefer alle unter derselben verzeichneten. Später wurde dann noch die Oberdominante c durch eine zweite, meist gelbe Linie bezeichnet. Damit war natürlich schon für die Deutlichkeit und Sicherheit der Neumenschrift außerordentlich viel gewonnen; der Zwischenraum von der unteren F-Linie bis zur oberen C-Linie barg eben nur die Tonstufen g, a, b, die nunmehr leichter durch ihre Stellung anzudeuten waren. Guido von Arezzo zog dann noch zwei Linien, die er ungefärbt ließ, so dass nun durch die vier Linien, eine gelbe, eine rote und zwei ungefärbte, die Stellung der Neumen und damit die Höhe der Töne genau bezeichnet werden konnte. Die beiden farbigen Linien vertraten unsere C- und F-Schlüssel, die sich aus der Bezeichnung ganz naturgemäß entwickelten. [Reissmann Handlexikon 1882, 315ff]