Musica ficta, Musica falsa (1929)

Musica ficta (oder auch Musica falsa) nennen die Musiktheoretiker im 13.-16. Jahrhundert die Notierung von Tonstücken in transponierten Lagen der Kirchentöne. Bis zu den Neuerungen der Chromatiker der Schule Willaerts galt ein Tonsatz als unweigerlich an die sich aus der Guidonischen Hand (siehe dort und Solmisation) ergebenden Verhältnisse gebunden, entweder in der Originallage (musica vera) oder aber in einer ihrer Transpositionen (musica ficta).

Da jene frühe Zeit unser vollständiges Vorzeichnungswesen noch nicht kennt (nur die Vorzeichnung eines kommt häufiger vor), so ist die gemeinte Transposition oft nur aus vereinzelt im Stück vorkommenden oder # zu erkennen; z. B. kann das Vorkommen eines # vor f oder c (außerhalb von Klauseln, in denen es als Subsemitonium auftritt) in einem Stück, das im Tenor auf d schließt, bedeuten, dass das Stück nicht in D-Moll (dorisch, I. Kirchenton), sondern in D-Dur steht. Doch ist Vorsicht in dieser Frage geboten. Vgl. H. Riemann, Verloren gegangene Selbstverständlichkeiten in der Musik des 15.-16.Jahrhunderts (1907). [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 1233]